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Gewissens- oder Verantwortungsethik?
Gemeinverständlicher Entwurf einer empirisch-normativen Risikoethik
Vorwort
Als das Ethik-Projekt vor mehr als zweitausend Jahren von Aristoteles begonnen wurde, konnten ethnische oder politische Gegner
sich gegenseitig vernichten. In unseren Tagen liegt dagegen die globale Selbstvernichtung technisch in unserer Macht. Dieser
Tatsache muss jede heute anwendbare Version der Ethik Rechnung tragen.
Das akademische Fach Ethik - auch Moralphilosophie genannt, da Moralbegründungen in ihrem Mittelpunkt stehen - vermochte nicht
eines der Probleme belastbar zu lösen, die bereits Aristoteles aufgeworfen hatte, geschweige denn ethische Probleme unserer Tage.
Für Moralphilosophie oder religiöse Versionen der Ethik hat Max Weber 1919 den Begriff "Gesinnungsethik" geprägt. Ihn konfrontiert
er mit dem der "Verantwortungsethik". In seinem Vortrag "Politik als Beruf" sagt Weber: Es ist "ein abgrundtiefer Gegensatz, ob man
unter der gesinnungsethischen Maxime handelt - religiös geredet: 'Der Christ tut recht und stellt den Erfolg Gott anheim' - oder
unter der verantwortungsethischen: dass man für die (voraussehbaren) Folgen seines Handelns aufzukommen hat."
So wenig anwendbar - wie Weber glaubt -, ist übrigens die Gesinnungsethik nicht. Abschätzungen von Handlungsfolgen setzen Rückgriffe
auf Erfahrungen voraus. Damit entfallen für eine Verantwortungsethik die Gewissensethik und alle Theorien, die nur auf Vernunft -
wie bei Kant, von Wright oder Lorenzen - oder auf Religionen setzen. Ein weiteres Manko bisheriger ethischer Theorien: Sie haben
ethische Probleme nicht behandelt, die entstehen, sobald Verantwortliche sich weder um Recht - soweit ihnen Verstöße nicht nachzuweisen
sind - noch um Moral scheren. Auch diese Lücke wollen wir im Folgenden auszufüllen suchen.
Ohne Konstitutionsprinzipien kommt keine Erfahrungswissenschaft aus. Solche Prinzipien - wie das Kausalprinzip in
Naturwissenschaften und Technik - sind unbeweisbar, werden indessen bis heute immer wieder durch neue Erfahrungen gestützt.
Wer der globalen Selbstvernichtung entgegenwirken will, muss Ethik - ähnlich wie Medizin - als globales Unterfangen verstehen,
das ohne Unterschied allen Menschen und Völkern zu Diensten ist.
Als ethisches Konstitutionsprinzip dient im Folgenden das Prinzip der Risikobegrenzung: Es hat verhaltensabhängige Risiken so zu
begrenzen, dass das Chaos der globalen Selbstvernichtung unwahrscheinlicher wird. Solche verhaltensabhängigen Risiken sprechen
wir als ethische Risiken an. Tritt eines ein, entsteht am Ort und zur Zeit der Übertretung Schaden. Die "Arznei" dagegen:
unverzügliche und gezielte Interventionen. Je besser sie gelingen - meist durch den Staat - , als desto "gerechter" erweisen
sich Staat und Gesellschaft. Gerechtigkeit mutiert in der Risikoethik zu einer messbaren Zustandsvariablen. Mit ihnen eng verknüpft
sind weitere wie "soziale Temperatur", Frieden - unter Menschen wie mit der Natur -, Solidarität und Freiheitlichkeit.
Da bisher alle Beiträge zum Ethik-Projekt unter Fachleuten umstritten waren und sind, werden gegen eine empirisch-normative
Risikoethik als Verantwortungsethik ebenfalls Einwände laut werden. Wir überlassen es Leserinnen und Lesern, diese zu bewerten.
Einführung
Wer als Staatsoberhaupt der Bundesrepublik wie als Mitglied der Regierung Verantwortung für das deutsche Volk trägt, hat laut
Verfassung folgenden Amtseid zu leisten:" Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen
mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft
erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde……"
Im gleichen Grundgesetz steht in § 38, Ziffer (1) über Abgeordnete des Bundestags "… Sie sind…..nur ihrem Gewissen unterworfen".
Bei diesem Wortlaut wird offenbar der Gewissensethik dogmatisch ein Vorrang vor der Verantwortungsethik eingeräumt.
Ethische Verantwortung kennt im Gegensatz zur politischen keine Grenzen; sie gilt allen Menschen, Nationen, Völkern, Ethnien oder
Religionen gleichermaßen. So wie im antiken Griechenland Plato forderte, nichts zu tun, was die eigene Polis kollabieren lassen
müsste, heißt ethische Verantwortung im Zeitalter von Wissenschaft und Technik alles dazu beizutragen, um unser globales
Zusammenleben nicht kollabieren zu lassen.
Ethische Verantwortung kann man nicht einklagen. In Demokratien könnten - freilich eher unwahrscheinlich - Wählerinnen und Wähler
ihren Regierungen neben politischer und rechtlicher Verantwortung für das eigene Volk explizit Mitverantwortung für die globale
Staatengemeinschaft abverlangen und sieabwählen, nehmen sie diese nicht wahr.
In Deutschland dürften Bürgerinnen und Bürger, die nach der Havarie des Kernkraftwerks von Fukushima öffentlich "Abschalten"
skandierten, davon überzeugt gewesen sein, dass dies zum Wohle aller Völker geschehen müsse. Ob sie sich dabei auch vergewissert
haben, ob "Abschalten" nicht mit globalen - rechtlichen und ethischen - Verpflichtungen zum Klimaschutz kollidiert?
Die in der Eidesformel des deutschen Grundgesetzes genannten Begriffe Nutzen und Schaden erinnern philosophisch Interessierte an
die im angelsächsischen Kulturraum angesehene utilitaristische Ethik. Erstmals berief sich diese Version der Ethik explizit
auf wissenschaftlich einzuholende Erfahrung: Nutzen und Schaden sollten nicht durch Nachdenken, sondern durch eine Art empirischer
Sozialforschung quantitativ bestimmt werden. Das utilitaristische Konstitutionsprinzip: Nutzen sollte für möglichst viele optimiert,
Schaden so breit wie möglich minimiert werden. Der verantwortungsethisch eher zweifelhafte Begriff des Nutzens prägte die
Bezeichnung dieses wichtigen Beitrags zum Ethik-Projekt.
Ethische Überlegungen im Alltag
Nicht erst in der Philosophie, schon im Alltag werden ethische Überlegungen angestellt. Wenn sich an einer Warteschlange jemand
nach vorne drängt, ist oft zu hören:"Wenn das alle so machten!"
Im Falle einer Warteschlange liegt die richtige Antwort auf der Hand: Wir sind verpflichtet auf Vorteile zu verzichten, die zu
Lasten anderer gehen. Warum wir uns selbst dann so verhalten "sollen", wenn niemand etwas von unserem "Fehlverhalten" bemerken
würde, bedarf durchaus noch einer Erklärung.
Die analoge Frage:"Wenn das alle so nicht machten?" hören wir nie.
Antworten auf die erste Frage führen zu passiven, Antworten auf die zweite zu aktiven Verpflichtungen. Die ersten verlangen von
uns Unterlassungen, die zweiten Taten.
Warum es überhaupt Verpflichtungen mit einer Bindewirkung für alle Verantwortlichen gibt, bedarf einer zusätzlichen Erklärung.
Verhaltensnormen verlangen die Unterlassung von bestimmten Taten
In der Risikoethik spielen von Menschen konstruierte Verhaltensnormen eine ähnlich fundamentale Rolle wie zu entdeckende - und
theoretisch zu rekonstruierende - Naturgesetze.
Fachleute wie Soziologen, Politikwissenschaftler oder Philosophen beschreiben passive Verpflichtungen als Verhaltensnormen,
Handlungsnormen oder soziale Normen. Diese appellieren an uns, Taten zu unterlassen, die wir in unserem eigenen Interesse
durchaus ausführen könnten. Diesen Appell können wir im Falle strafbewehrter Rechtsnormen unmittelbar verstehen. Warum die von
unseren Eltern übernommenen moralischen Normen strikt und "aus freien Stücken", folglich autonom, zu befolgen sein sollen,
muss - wie erwähnt - erklärt werden.
In einer Warteschlange "sollen" wir uns nicht vordrängen. Selbst wenn wir hungrig sind, "sollen" wir anderen nicht ihre Nahrung
entziehen. Könnten wir Partnern etwas vormachen, damit sie für uns etwas Vorteilhaftes tun, "sollen" wir dies nicht tun.
In allen drei Fällen von "sollen" geht es um ein Opfer, zu dessen Lasten wir uns jeweils Vorteile zu verschaffen suchen.
Gefühlsmäßig leuchten uns solche Forderungen einer solchen "Ethik des Alltags" spontan ein. Wir stellen uns oft dabei vor, wir
selbst könnten das Opfer eines "skrupellosen" Missetäters sein, wie es manchen falsch beratenen Bankkunden in der globalen
Finanzkrise ergangen ist. Überdies erinnern sich viele an Ermahnungen ihrer Eltern, wenn sie ihnen gestanden haben, Mutter,
Vater oder anderen Menschen etwas unbemerkt weggenommen, eine Fundsache nicht ins Fundbüro gebracht oder einen Mitschüler
aus Ärger mit einem Faustschlag zu Boden gestreckt zu haben.
Wir halten fest: Warum wir - ohne wie im Recht dazu gezwungen zu werden, passive Verpflichtungen "ohne wenn und aber" beachten
sollen - auch wenn niemand einen Verstoß bemerken könnte -, möchten wir als denkende Wesen nicht nur erfühlen, sondern auch
intellektuell einsehen.
Ethische Pflichten verlangen die Ausführung bestimmter Taten
Aktive Verpflichtungen fordern von uns, dann etwas zu tun, wenn wir es können. Wir bezeichnen aktive Verpflichtungen - abweichend
vom üblichen Sprachgebrauch - nur als Pflichten.
Im Falle der Moral zum Beispiel die Pflicht, einem älteren Menschen zu helfen, eine belebte Straße zu überqueren. Auch das Recht
verlangt von uns, unter bestimmten Randbedingungen in Notfällen zu helfen. Diese aktive Verpflichtung wird, etwas verklausuliert,
eingefordert, indem sie als "unterlassene Hilfeleistung" bestraft wird.
Eine Pflicht, die wir alle aufgrund unserer Erziehung kennen, ist die, Schwächeren beizustehen, so Kindern, Behinderten oder
Älteren zu helfen, belebte Straßen unbeschadet zu überqueren, Behinderten oder Älteren unseren Sitzplatz anzubieten oder einen
Gegenstand aufzuheben, der ihnen zu Boden gefallen ist.
Pflichten unterscheiden sich grundsätzlich von Verhaltensnormen: Während jeder etwas unterlassen kann, wenn er nur weiß, was,
gehören zur Ausführung nicht aller, aber vieler Pflichten Kompetenzen, Erfahrungen und oft auch bestimmte Mittel, die nicht
überall zur Verfügung stehen.
Wir können nur jemand tadeln, er habe seine Pflicht nicht erfüllt, der körperlich, geistig, von seinen Kompetenzen und Erfahrungen
her überhaupt in der Lage gewesen wäre, die gebotenen Taten auszuführen.
Zur Befolgung von Normen können wir alle verpflichten, wie es ja auch das Recht tut, das nur einmal und nur unter Kautelen im
Rahmen der strafbaren "unterlassenen Hilfeleistung Taten fordert -, zur Erfüllung von Pflichten nur Personen, die in der Lage
sind, geforderte Taten auszuführen.
Nur im Nachhinein - und oft nur aufwändig - lässt sich überprüfen, ob eine Pflicht erfüllt werden konnte und auch tatsächlich
erfüllt worden ist.
Offen bleibt - wie bereits oben im Fall von Normen - welche Taten mit einem ethischen Appell verbunden sind und warum alle sie
befolgen sollen, wenn sie in der Lage sind, die geforderten Taten autonom auszuführen.
In den nächsten Abschnitten beschäftigen wird uns zunächst mit ethischen Normen. Auf ethische Pflichten kommen wir später zurück.
Schon an dieser Stelle sei festgehalten: Ethische Normen können nur in dem Umfang beachtet werden - ohne dass Menschen ihr
eigenes Überleben oder das ihrer Familie aufs Spiel setzen -, in dem zuvor ethische Pflichten von anderen mit uns Zusammenlebenden
ausreichend häufig erfüllt worden sind.
Ethische Normen mindern ethische Risiken
Um mit Hilfe unseres Konstitutionsprinzips ethische Normen für den Umgang zwischen Menschen wie mit der Natur zu identifizieren,
wenden wir ein asymptotisches Verfahren an.
Wir betrachten dazu versuchsweise eine Tat, von der wir - etwa aufgrund unserer Erziehung - annehmen, wir seien zu ihrer
Unterlassung verpflichtet, wie zum Beispiel bei Betrügerei.
Wenn wir die relativen Häufigkeiten ihrer Ausführung überall in der Welt gegen Eins gehen lassen und dann allein dadurch aufgrund
aller bisher gemachten Erfahrungen unser Zusammenleben weltweit kollabieren müsste, dann haben wir die ethische Norm identifiziert,
die diese Tat universell verbietet.
Zum ersten Mal hat Plato das geschilderte Verfahren für den Umgang zwischen Menschen in seinem sokratischen Dialog "Kriton"
eingesetzt. Ihm ging es darum, nicht durch Ignorierung rechtlicher Normen - selbst wenn sie im Einzelfall nicht korrekt angewendet
worden sind -, zum Kollaps Athens beizutragen. Unser "Athen" ist heute - angesichts unserer technischen Mittel, die globale
Zivilisation zu zerstören - die globale Risikogemeinschaft.
Machen wir die Probe aufs Exempel mit einigen aus unserem Elternhaus bekannten moralischen Normen.
Wenn die relative Häufigkeit, Konflikte durch Gewalt, Betrug, Diebstahl oder Unterschlagung zu lösen, im Grenzfall weltweit die
Eins erreichte, würde unserer globale Zivilisation durch jede einzelne dieser Taten zusammenbrechen. Ergo sind sie durch ethische
Normen verboten. Wir sehen: Moralische fallen mit ethischen Normen zusammen.
Beispiele elementarer ethischer Normen
Da sich die Auswirkung auf Beachtung oder Nichtbeachtung auf die globale Zivilisation durch Gedankenexperimente - so präzisieren
wir den gesunden Menschenverstand - anstellen lassen, bezeichnen wir solche ethischen Normen als elementar. Wir werden gleich
sehen, dass nicht nur weltweit akzeptierte moralische Normen elementare ethische Normen sind.
Einige durchaus aktuelle Beispiele: Ethische Appelle, Abtreibungen zu unterlassen, auf Erpressung oder Bestechung zu verzichten,
Menschen nicht als Geiseln zu missbrauchen, noch genießbare Lebensmittel nicht wegzuwerfen und Müll nicht in Wäldern
oder öffentlichen Anlagen "zu entsorgen".
Wir greifen nur einmal den Appell heraus, Geiselnahme zu unterlassen. Da Normen an kollektiv Verantwortliche ebenfalls
appellieren, gilt ihr Aufruf auch Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes oder der Ärzte. Wenn diese ihr Streikrecht ausüben,
nehmen sie Menschen - so im öffentlichen Nahverkehr, bei der Müllabfuhr oder in Krankenhäusern - als Geiseln, die keinerlei
Verantwortung für ihre tatsächliche oder vermeintliche finanzielle oder arbeitsrechtliche Misere tragen. Normativ ist dies klar
verboten, auch wenn das Streikrecht - wie so Vieles andere - durch Gesetze erlaubt ist. Freilich muss man hier auch den Staat in
Haftung nehmen, der in Kauf nimmt, dass seine Bürgerinnen und Bürger auf kürzere oder längere Zeit als Geiseln missbraucht werden;
es wäre seine Aufgabe, für den öffentlichen Dienst - und nur um diesen geht es - andere und wirksame Schlichtungsverfahren
vorzusehen. Es liegt auch kein normatives Dilemma vor - siehe Abschnitt - , das nur durch Streik mit minimalem Schaden für
Beteiligte wie Betroffenen aufzulösen wäre.
Mit der Identifizierung einiger nichtelementarer ethischer Normen, besonders solcher im Umgang mit der Natur, befassen wir uns
noch. In den nächsten Abschnitten wählen wir elementare ethische Normen. An ihnen machen wir klar, wie sie - wiewohl durch
ihre globalen Auswirkungen identifiziert - zusätzlich Individuen so lange schützen, wie die normativen Appelle autonom - ohne
äußeren Druck - beachtet werden.
Zunächst noch eine kurze Bemerkung darüber, warum wir uns auf Risiken und Schaden beschränken und auf die Begriffe Chancen oder
Nutzen - wie im Utilitarismus - verzichten.
Chancen und Risiken
Was dem Einen nützt oder was ihn glücklich stimmt, kann den anderen unglücklich machen oder ihm schaden. Wer zum Beispiel ein
schwaches Herz hat und joggt, um sich fit zu halten, kann durch ein Verhalten, das bei anderen die Gesundheit stärkt, den
vorzeitigen Tod riskieren.
Ethischen Risiken oder, wenn ein zwischen Null und Eins liegendes Risiko zu Eins wird und daher eintritt, ethischem Schaden
sind Menschen weltweit ausgesetzt. In der Medizin kann der Reichste die gleichen Krankheiten bekommen wie der Ärmste. In der
Ethik ist der Reichste dem Risiko des Diebstahls ebenso ausgesetzt - der ihm im Hotel seinen Schmuck kosten kann - wie der
Ärmste, dem seine zum Gehen benötigte Krücke weggenommen wird.
Risiken in Medizin oder der Ethik sind insofern vergleichbar, als sie buchstäblich jeden treffen können. Die bezifferbaren Größen
der Risiken sind dagegen sehr unterschiedlich: In Überlingen ist das individuelle Risiko für einen Passanten, nachts gewaltsam
umzukommen, deutlich kleiner als in der Großstadt Frankfurt. Und wer als "Reicher" Leibwächter hat, kann sogar in einer
gefährlichen Großstadt vor dem gewaltsamen Tod bewahrt werden.
Die Chance, einen nächtlichen Spaziergang unbeschadet zu überstehen, ist in Überlingen größer als in Frankfurt. Wir können
daher auf den Begriff der Chancen - die nur allzu oft von Mensch zu Mensch schon wegen der Gaben der Natur unterschiedlich
sind - getrost verzichten.
Ein Letztes: Größte Lebenschancen genießt offenbar jemand, der - was in der Praxis nie vorkommt - keinem einzigen Risiko ausgesetzt
ist, nicht dem der Armut oder dem der Krankheit, um zwei unterschiedliche Risiken explizit anzusprechen.
Die Reduzierung verbreiteter Armut hängt indessen nicht von der Häufigkeit der Befolgung passiver, sondern von der Häufigkeit der
Befolgung aktiver Verpflichtungen ab. Darauf gehen wir genauer ein, wenn wir aktive Verpflichtungen analysieren.
Ethische Normen als Win-Win-Regeln
Ähnlich wie in der Ökonomie unterscheiden wir zwischen der - statistisch beschreibbaren - Makroethik und der Mikroethik, bei der
es um nur einen oder wenige Menschen geht.
Oben haben wir ethische Normen ausschließlich durch ihre Beiträge dazu erklärt, die globale Selbstzerstörung unwahrscheinlicher
zu machen, ein ausschließlich makroethisches Verfahren.
Dennoch sind im Sinne der Spieltheorie ethische Normen - falls im Grenzfall universell beachtet -, "Win-Win-Regeln" für alle
Menschen weltweit. Es haben also alle etwas davon, solange keine der Normen übertreten wird. Damit haben wir die Gesinnungsethik
als Grenzfall der Verantwortungsethik reproduziert.
Der Geburtsfehler der Gesinnungsethik besteht nun bekanntlich darin, dass sie versagt, sobald Normen übertreten werden. Dadurch
verlieren am Ort und zur Zeit der Übertretung die Win-Win-Regeln für Opfer - und oft auch Täter - ihre Anwendbarkeit. Denn bei
einem Einzelfall spaltet sich formal die Gesellschaft einmal in die Kleingruppe bestehend aus Opfer und - gegebenenfalls - Täter,
und zum anderen in der Großgruppe aller übrigen, für die weiterhin alle ethischen Normen zusammen Win-Win-Regeln sind.
Wie diese Spaltung genauer vonstattengeht, zeigen wir in den folgenden Abschnitten
Die Übertretung schon einer Norm bewirkt mikroethischen Schaden
Ein Beispiel lehrt oft mehr als tausend Worte. Kommen wir auf die ehemalige Reichsstadt Überlingen am Bodensee zurück, heute
ein Kneippkurort.
Wenn einem Gast vor Betreten seines Hotels die Handtasche geraubt wird, weil der Räuber darin Geld vermutet, entsteht dem Opfer
Schaden. Aus dem erfahrungsgemäß kleinen Risiko von - vermuten wir - etwa 0,01 in der kleinen Stadt Überlingen überhaupt einer
Gewalttat zum Opfer zu fallen, wird für das Opfer das Risiko abrupt zu 1,00.
Für das Folgende nehmen wir zunächst an, dem Räuber sei die Flucht mit seiner Beute gelungen. Der Schaden für das Opfer liegt
dann erst einmal in der Höhe der Ausgaben für die Neubeschaffung der Handtasche samt Inhalt, etwa Papieren, Schlüsseln und der
gefüllten Börse. Der Gesamtschaden könnte indessen über den Diebstahlschaden hinausgehen, wenn das Opfer durch den Ruck des
Entreißens zu Fall kommt und sich dadurch - mehr oder weniger - verletzt. Zum Schaden der vollständigen Neubeschaffung alles
Entwendeten kommt der Schaden, der beziffert werden kann durch die medizinischen Kosten der Wiederherstellung der Gesundheit;
von einem möglichen Arbeitsausfall wollen wir einfachheitshalber absehen.
Unabhängig von unserer anschaulichen Darstellung eines konkreten Falles wird mikroethischer Schaden durch den Aufwand wiedergegeben,
den Zustand vor Übertretung von Normen - Im Beispiel der Norm, Gewalt zu unterlassen und der weiteren, fremde Sachen nicht
wegzunehmen - vollständig wieder herzustellen. Meist handelt es sich um kollektiven Aufwand, da die wenigsten Täter - wenn man sie
überhaupt hat fassen können - angerichteten Schaden allein nicht wieder gutmachen können.
Der Aufwand der Wiedergutmachung könnte alle Grenzen überschreiten, sozusagen unendlich werden, wenn durch einen unglücklichen
Zufall das Opfer beim Fall zu Tode gestürzt wäre.
Zusammengefasst: Durch die Übertretung auch nur einer ethischen Norm entsteht nur beim Opfer mikroethischer Schaden (fasst man
den Täter, auch bei diesem, mindestens dadurch, dass er seine Bewegungsfreiheit auf kürzere oder längere Zeit zu verlieren
droht). Für die übrigen Menschen aus Überlingen, soweit sie sich nicht zur Schadensbegrenzung eingemischt haben, bleibt alles
beim Alten: Für sie gelten - solange es sich um einen Einzelfall handelt - weiter alle ethischen Normen, die sie vor Übergriffen
ihrer - gehorsamen - Mitmenschen schützen.
Wir sehen aber auch: Vor dem Überfall in Überlingen war der rechnerische Erwartungswert eines möglichen Schadens, wie ihn ein
Versicherungsunternehmen aufgrund aktueller Statistiken hätte berechnen müssen, klein. Im konkreten Fall kann dieser Erwartungswert
unter-, aber auch - so im Todesfall - gewaltig überschritten werden.
Vom mikroethischen zum makroethischen Schaden
Je mehr Schadensfälle - statistisch verteilt - regional oder global auftreten, desto rascher steigen damit verknüpfte ethische
Risiken, wenn niemand in den Verlauf der Schadensereignisse eingreift oder eingreifen kann: Aus mikroethischem wird makroethischer
Schaden. Immer mehr Menschen verlieren den Schutz aller einmal identifizierten ethischen - oder auch den Schutz, der mit diesen
kompatiblen rechtlichen Normen - , wenn die angedeutete Entwicklung nicht durch geeignete - meist durch Staaten - vorgenommene
Interventionen gestoppt wird. Diesen Fall behandeln wir später.
In solchen Fällen wird aus mikroethischem makroethischer Schaden. Übersteigt er die ökonomische Leistungskraft - sagen wir - eines
Staates, kollabiert dieser absehbar, wenn externe Hilfe ausbleibt.
Eine optimale Selbstorganisation der globalen Zivilisation
Eine optimale Selbstorganisation wäre erreicht, wenn alle zu einer bestimmten Zeit in der globalen Zivilisation identifizierbaren
ethischen Normen autonom beachtet werden würden. Dies wäre der - leider völlig unrealistische - Zustand optimaler globaler
Schadensprävention und damit der ethische Soll-Zustand.
Diese optimale Selbstorganisation hat es in der Vergangenheit für keine Zivilisation und kein Land gegeben. Es gibt sie auch
heute nicht, und es dürfte auch künftig auch einziges kein Land dieser Welt sich optimal selbst organisieren. Der Ist- Zustand,
unterscheidet sich einmal mehr, einmal weniger vom Soll-Zustand.
Da Schaden unmittelbar durch Übertretung ethischer Normen entsteht, haben wir eine Verantwortungsethik vor uns, die auf empirisch
bestimmten ethischen Normen aufbaut; diese Normen machen mit ihnen verknüpfte ethische Risiken desto beherrschbarer, je häufiger
sie alle autonom befolgt werden. Desto mehr nähert sich dadurch der Ist- dem Soll-Zustand an.
Zur Beschreibung ethischer Zustände durch einen Zustandsvektor
Nehmen wir an, es sei uns gelungen, alle ethischen Normen zu identifizieren, die für das absehbare Überleben einer konkreten
Zivilisation einer erreichten wissenschaftlich-technischen und wirtschaftlichen Entwicklungsstufe dienlich und - siehe unten -
untereinander verträglich sind.
Dann könnten wir die relativen Häufigkeiten, mit denen einzelne ethische Normen übertreten werden, zu einer monoton fallend
geordneten Menge zusammenfassen. An erster Stelle finden sich relative Häufigkeiten von ethischen Normen, die einzeln mit
irreversiblen mikroethischen Schäden verknüpft sind; dann folgend relative Häufigkeiten weiterer Normen, deren Übertretung zu
immer geringerem mikroethischem Schaden führen würde, bis endlich am Schluss der Menge relativer Häufigkeiten solche einzuordnen
sind, die zum kleinsten Erwartungswert mikroethischen Schadens gehören.
Im Falle eines Falles kann sich ein Erwartungswert - eine empirisch fundierte statistische Rechengröße - gewaltig vom tatsächlich
eingetretenen Schaden unterscheiden.
Jede Menge relativer Häufigkeiten gibt eine Momentaufnahme des Ist-Zustandes wieder. Steigen die relativen Häufigkeiten mit der
Zeit an, wachsen die ethischen Risiken, fallen sie, können wir Entwarnung geben.
Bedingte ethische Prognosen sind so möglich, wenn wir diese relativen Häufigkeiten von Jahr zu Jahr messen.
Die Stellen der Menge, an welcher relative Häufigkeiten übertretener Normen, nach fallendem mikroethischem Schaden geordnet,
anzutreffen sind, seien die jeweiligen Ränge übertretener ethischer Normen.
Cum grano salis lässt sich daher sagen: Je größer der mit einer Norm verknüpfte absehbare endliche Schaden, desto größer ihr -
endlicher - Rang.
Wäre eine der Häufigkeiten gleich Null, hieße das, die zugehörige Norm sei gar nicht übertreten worden. Wären im unrealistischen
Grenzfall alle Häufigkeiten gleich Null, wäre die Weltgemeinschaft oder wenigstens die entsprechende Nation im Soll-Zustand; für
diesen wäre daher der Nullvektor der entsprechende Zustandsvektor.
Ethische Zustandsvektoren insgesamt für Ist-Zustände lassen sich nur durch multidisziplinäre empirische Analysen und anschließende
rechnergestützte Simulation konstruieren. Beispiele folgen.
Eine recht gute Näherung des Ist-Zustandes erreichen wir bereits, wenn wir einen Zustandsvektor konstruieren, in dem nur
elementare ethische Normen enthalten sind.
Medizin als Analogie für die empirisch-normative Risikoethik
So wie heutige Mediziner "auf den Schultern ihrer Vorgänger" stehen und dadurch weiter blicken als diese, müssten es künftig
auch die für die empirische Verantwortungsethik wesentlichen Erfahrungen ermöglichen, morgen weiter zu blicken, zu
zuverlässigeren Prognosen zu führen als heute.
Während im Mittelpunkt der Medizin der Einzelne steht, der krank werden kann und durch Heilung gesund werden soll, stehen im
Mittelpunkt der empirischen Risikoethik soziale Systeme wie Familien, Unternehmen, Kommunen, Länder oder Zivilisationen.
Gleich in beiden Fällen aber ist, dass das falsche individuelle Verhalten durchschlägt auf das Ganze: Im Falle der Medizin
auf die Volksgesundheit, im Falle der Verantwortungsethik auf die Überlebensrisiken der betroffenen Sozialsysteme.
In der Medizin ist die kollektive Gesundheit desto größer, je mehr Menschen - meist schon aus eigenem Interesse - gesund bleiben
oder nach erlittenen Erkrankungen durch Aktivitäten ihrer Ärzte und durch Befolgung der von ihnen empfohlenen Verhaltensregeln
gesunden können.
In der Risikoethik gilt: Je häufiger makroethisch ethische Normen - bisweilen durchaus gegen eigenes Interesse - beachtet werden,
desto kleiner fallen zugehörige ethische Risiken aus; dies Verhalten verringert auch individuelle Lebensrisiken.
In der Medizin können Menschen selbst dann gesundheitlichen Schaden erleiden, wenn sie sich an alle Vorschläge ihrer Ärzte halten.
In der empirisch-normativen Risikoethik als Verantwortungsethik tritt Schaden erst ein, wenn Akteure zuvor ihre Verantwortung
vernachlässigt haben.
Doch müssen wir auch den Fall analysieren, dass Menschen aus individueller Unkenntnis unverantwortlich agieren, oder deshalb
nicht so handeln, wie sie sollen, weil eine strikte Befolgung aller Normen eines Zustandsvektors ihr eigenes Überleben oder das
ihrer Familie riskieren würde.
In der Gesinnungsethik heißt es: Du sollst. In der Verantwortungsethik wird daraus: Du sollst, wenn Du kannst, wenn Dich ein
Befolgen der Normen nicht dein Überleben kosten würde.
Ethik fordert kein Heldentum, schließt es aber auch nicht aus. Ethisch wäre der "ein Held", der selbst große eigene Interessen
denen anderer hinten anstellt und dabei nur ein Minimum an ethischen Normen übertritt (siehe den Abschnitt über normative
Dilemmata!)
Wir werden auch sehen, dass eine "soziale Temperatur" als Alarmzeichen eingeführt werden kann, wie wir es für unsere medizinische
Körpertemperatur kennen. Zuvor wollen wir einzelne wichtige Beziehungen zwischen unterschiedlichen Normen eines Zustandsvektors
explizit besprechen.
Verknüpfungen zwischen ethischen Normen
Versionen der Gesinnungsethik haben - im Unterschied zum Recht - Ränge von Normen und Verknüpfungen zwischen diesen nicht
systematisch berücksichtigt. Im Recht spiegelt die Höhe einer Strafe den Rang einer Norm wider, den der Gesetzgeber dieser
zumisst.
Nun zu untereinander faktisch verknüpften Normen. Wer auf dem Schulhof einen stärkeren Schüler schwer beleidigt, braucht sich
nach aller Erfahrung über dessen gewaltsame Reaktionen nicht zu wundern. Wer Gewalt sicher vorbeugen möchte, muss Beleidigungen
meiden.
Welche makroethischen Folgen schwere Beleidigungen haben können, machen uns die damals durchaus absehbaren Gewaltausbrüche
deutlich, die nach den Mohammed-Karikaturen in einer dänischen Zeitung in islamischen Ländern aufgetreten sind.
Ähnliche Verknüpfungen bestehen, wenn jemand betrogen, bestohlen oder erpresst wird. Kann das Opfer den Betrüger, Dieb oder
Erpresser identifizieren, riskieren die Täter gewaltsame Reaktionen seitens des Opfers.
Dass Gewalt national wie international ungesetzlich ist, spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle. Was zwischen einzelnen
Menschen gilt, trifft auch auf Familien, Sippen, Ethnien oder Ländern zu.
Die Häufigkeiten, mit denen unterschiedliche Normen tatsächlich beachtet werden, hängen zusammen. Statistiker sagen: Die
Häufigkeiten sind untereinander korreliert.
Korrelationen haben unterschiedliche - nur empirisch zu erforschende - Stärken und wirken sich auf die tatsächliche Beachtung
unterschiedlicher Normen aus.
Ein ethischer Zustandsvektor muss - wie oben bereits angedeutet - aus Komponenten bestehen, deren Normen untereinander
verträglich sind. Sonst lassen sich seine Normen nicht simultan beachten.
Wir werden in einem eigenen Abschnitt sehen, dass Häufigkeiten, mit denen ethische Pflichten erfüllt werden, und die, mit denen
normative Appelle beachtet werden, ebenfalls stark verknüpft sind.
Zur Messung der sozialen Temperatur
Die soziale Temperatur ist eine einfache und für jedes Sozialsystem relativ leicht messbare Zustandsgröße; sie erlaubt - anders
als in der politischen Ökonomie - bedingte kurzfristige Prognosen über dessen absehbare Stabilität und zwingt uns bei ihrer
Erhöhung unverzüglich zu handeln.
Wegen Verknüpfungen zwischen Häufigkeiten unterschiedlicher Normen, die den Zustandsvektor eines Landes oder einer Zivilisation
aufbauen, können wir eine stark vereinfachte Zustandsmessung einführen. Diese kann man mit der Messung der Körpertemperatur
in der Medizin vergleichen: Steigt diese an, bedeutet es ein Alarmzeichen, sinkt sie wieder, gibt es zwar noch keine Entwarnung,
aber die akute Gefahr ist zunächst vorbei.
Welche genauen Infektionen hinter einer Temperaturerhöhung stecken, darüber sagt diese weder in der Medizin, noch der Ethik etwas
aus.
Die soziale Temperatur misst die Häufigkeiten nur aller ethischen Normen, die mit der Ausübung - unterschiedlich heftiger -
körperlicher Gewalt verbunden sind.
Warum kleinere oder größere Gewaltorgien in einer "kranken" Familie oder einem "kranken" Land vorkommen, ist mit der Messung der
sozialen Temperatur nicht geklärt.
Tritt im Grenzfall über einen längeren Zeitraum keine Gewalt auf, ist der Zustand des Friedens unter Menschen erreicht.
Im Unterschied zur moralischen Tradition umschließt das ethische Gewaltverbot nicht nur Gewalt unter Bürgerinnen und Bürgern,
sondern auch Gewalt zwischen Bürger und Staat. Je mehr Menschen wegen Gewaltkriminalität einsitzen - auch wenn sie "rechtskräftig"
verurteilt sind -, desto größeren Risiken ist die zukünftige Entwicklung eines Staates ausgesetzt.
Verträglichkeit und Unverträglichkeit einiger ethischer Normen
Nicht alle ethischen Normen, die einzeln durchaus korrekt konstruiert sind, sind zusammen untereinander verträglich.
Bei Unverträglichkeit zweier ethischer Normen können nicht beide in einem und demselben ethischen Zustandsvektors berücksichtigt
werden.
Die faktische Unverträglichkeit zweier einzeln sinnvoller Normen lässt sich am geplanten Ausstieg aus der Nutzung der
Reaktortechnik demonstrieren.
Kernreaktoren erzeugen in aller Welt Abfälle, die nach unserem Wissensstand nicht zu entsorgen sind. Sie belasten absehbar unseren
Planeten als Lebensraum langfristig: eine typische ethisch-normativ relevante Aussage. Dies genügt, die Erzeugung von Kernenergie
normativ zu verbieten.
Zweitens: Beim Betrieb von Kernkraftwerken drohen Havarien, welche - im Falle eines GAU - trotz kleinen technischen Restrisikos
Regionen unbewohnbar machen; allein diese Tatsache würde schon das normative Verbot der Kernenergie stützen.
Verzichtet man weltweit auf Kernenergie, können künftig keine schweren Unfälle mehr mit aktiven Reaktoren entstehen. Unfälle mit
bereits abgeschalteten lassen sich dagegen auch dann nicht sicher ausschließe, Entsorgungsprobleme bleiben ebenfalls bestehen.
Bestenfalls lassen sich einige ethische Risiken etwas erniedrigen.
Analoge Argumente gelten indessen für die Energiegewinnung durch Oxidation von Kohle, Öl und Naturgas. Der dabei frei werdende
Ausstoß riesiger Mengen von Kohlendioxid ist, empirisch nachgewiesen, klimaschädlich. Die vom Menschen zu verantwortende Komponente
der globalen Klimaerwärmung steigt bei großtechnischen Verbrennungen absehbar drastisch an. Dies vergrößert - empirisch gestützt -
Überlebensrisiken vieler Nationen auf dem Planeten.
Die Energiegewinnung durch Verbrennen von Kohle, Öl und Gas ist normativ daher aus guten Gründen einzeln ebenfalls verboten.
Nicht verboten ist die Energiegewinnung aus regenerativen Quellen als Spezialfall einer universellen ethischen Regel im Umgang mit
der Natur: Möglichst wenig in die Gleichgewichts- und Kreislaufprozesse der Natur eingreifen. Diese haben sich über Jahrmillionen
ausgebildet und sich für den Lebensraum Erde bewährt.
Die absehbare "Bevölkerungsbombe" ist eine weitere schwerwiegende Störung, die ebenfalls Auswirkungen auf die globale
Energieversorgung hat. Auch dieses Faktum zwingt uns die ethische Verpflichtung der Geburtenkontrolle auf.
Nach dem Stand der Technik reicht die - normativ einzig zulässige - Gewinnung von Energie aus regenerativen Quellen nicht entfernt
aus, den globalen Energiebedarf zu decken.
Die normativen Verbote der Energiegewinnung aus Kernenergie oder durch Verbrennung fossiler, über Jahrmillionen gewachsener
Ressourcen, sind nicht theoretisch, doch faktisch untereinander unverträglich.
Sind zwei einzeln wohlbegründete ethische Normen unverträglich, entsteht ein ethischer Konflikt. Solche Konflikte zwischen
moralischen Normen sind seit Langem in der Moralphilosophie als moralische Dilemmata bekannt, aber bis heute nicht systematisch
gelöst.
Moralische - oder allgemeiner normative - Dilemmata kennzeichnen alle Systeme, die auf Normen bauen. Auch das Recht leidet unter
ihnen; Gerichte sollen sie allenthalben beilegen. Wie Konflikte zwischen ethischen Normen risikoethisch zu bewältigen sind, stellen
wir noch zurück.
Denn im nächsten Abschnitt widmen wir uns zunächst aktiven Verpflichtungen, die wir oben als ethische Pflichten eingeführt haben.
Wie wir ethische Pflichten identifizieren können
Auch ethische Pflichten im Umgang zwischen Menschen wie dem mit der Natur identifizieren wir - wie bei ethischen Normen - durch
ein makroethisches Verfahren.
Dazu haben wir durch unser Schul- und Medienwissen oder unter Rückgriff auf aktuelle Ergebnisse zuständigen Erfahrungswissenschaften
zu entscheiden, ob die von uns versuchsweise vorgegebene Handlung - global unterlassen - mit empirischer Gewissheit zum
Zusammenbruch der globalen Zivilisation oder kurz ins Chaos führen müsste.
Einen solchen Versuch können wir mit der Vorgabe der - uns im Elternhaus eingeprägten moralischen - Pflicht machen, Schwächeren
beizustehen.
Mit diesem Verfahren gehen wir - wie bei der Konstruktion von Normen - vor: Taten, die notwendig sind, Risiken zu reduzieren,
die dem globalen Überleben drohen, sind denen pflichtmäßig geboten, die sie als Akteure aufgrund ihrer Kompetenzen, ihrer
Erfahrung und der ihnen zur Verfügung stehenden Mittel ausführen könnten.
Wenn weltweit Schwächere - insbesondere Babys und Kleinkinder - nicht auf wirksame aktive Hilfe rechnen können, ist das globale
Chaos vorprogrammiert.
Würde - um einen zweite Verpflichtung zu analysieren - weltweit niemand arbeiten, der selbst Arbeit schaffen könnte oder dem von
Dritten Arbeit angeboten wird, die er in den Grenzen seiner Kompetenzen übernehmen kann, würde sich mit Sicherheit unsere
Weltzivilisation selbst zerstören.
Um die drohende globalen Selbstzerstörung zu verhindern, ist daher Arbeit pflichtmäßig geboten.
Da erfahrungsgemäß nicht alle Akteure bereit sind, aus eigener Einsicht Arbeit zu leisten, ist es insbesondere für Regierungen
wichtig, auch solche potentiellen Akteure zu motivieren, die Anstrengungen lieber unterlassen, die mit Arbeit verbunden sind.
Eine bloße Gesinnungsethik würde eine solche verantwortungsethische Vorgehensweise strikt ablehnen Wie dies Problem konkret gelöst
werden könnte, geben wir im nächsten Abschnitt an.
Während Menschen, die Eigenverantwortung tragen, immer etwas unterlassen können, wenn sie nur wissen was, können pflichtgemäße
Taten nur ausgeführt werden, wenn - wie schon mehrfach angedeutet - Bedingungen erfüllt sind.
Selbst, wenn diese erfüllt sind, kann jede gebotene Handlung im Einzelfall scheitern. Das Risiko des Scheiterns ist kein ethisches,
denn es hängt mit der inneren Schwierigkeit der Ausführung der von einer Pflicht gebotenen Tat zusammen.
Jeder potentiell Verantwortliche hat im Einzelfall daher sorgfältig zu überprüfen, ob Kompetenzen, Expertise und Mittel ausreichen,
die Pflicht zu erfüllen. Denn es ist besser, eine Handlung zu unterlassen, von der wir wissen, dass wir sie wahrscheinlich nicht
zum guten Ende werden ausführen können.
So hätte man - um ein politisches Beispiel zu wählen - von Anfang an erkennen können, dass die Kompetenz, die Expertise und die
Mittel der beteiligten Nationen nicht ausreichen würden, Afghanistan erfolgreich zu befrieden.
Im Recht kann immer nur im Nachhinein überprüft werden, ob nach einem Scheitern Versäumnisse von Seiten des Akteurs vorgelegen haben
könnten.
Makroethisch können wir dagegen eindeutig feststellen: Je häufiger Akteure "ihre" Pflicht erfüllen und erfüllen können - in den
unterschiedlichsten kleinen wir großen Verantwortungsbereichen -, desto kleiner wird das ethische Risiko eines kollektiven
Zusammenbruchs und auch das damit zusammenhängende für den einer Familie, einer Gemeinde, eines Landes oder einer Zivilisation.
Auch zwischen Pflichten und Normen gibt es Verknüpfungen
Brecht verknüpft in seiner "Dreigroschenoper" durch das Wort "Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral", wie häufig nicht
ausgeübte Pflichten - damals in der aristokratischen oder bürgerlichen Gesellschaft - dazu führen können, dass von
Pflichtwidrigkeiten Betroffene um ihr bloßes Überleben kämpfen müssen und es sich daher nicht leisten können, moralische Normen
autonom zu befolgen.
Eine mikroethische Befolgung ethischer Pflichten fordert das christliche Gebot der Nächstenliebe. In den komplexen modernen
Gesellschaften reicht Nächstenliebe nicht aus. Zu einer wirksamen Hilfe für Schwächere oder für Hilfe zur Selbsthilfe bedarf
es konzertierter Aktionen, in denen Kompetenzen, Erfahrungen und Mittel unterschiedlicher Akteure gebündelt werden.
Dass ein Einziger - wie im biblischen Gleichnis des "barmherzigen Samariters" - selbst alles vermag, ist heute eine Ausnahme.
Daher ist es ethisch kaum sinnvoll zu verfolgen, wie gut es dem Einzelnen in seinem größeren oder kleineren Verantwortungsbereich
gelingt, übertragene Pflichten zielführend zu erfüllen.
Über das Ausmaß der makroethischen Pflichterfüllung lassen sich dagegen verlässliche Aussagen machen, weil Häufigkeiten der
Pflichterfüllung und der Beachtung von Normen eng verknüpft sind.
Zur statistischen Messung der makroethischen Solidarität
Was wir für jedes soziale System messen können, ist die Häufigkeit, mit der ethische Pflichten - insbesondere im Umgang zwischen
Menschen - makroethisch erfüllt werden.
Wie schon das Beispiel von Brecht zeigt, sind relative Häufigkeiten, mit denen ethische Normen autonom beachtet werden und
statistisch verteilte, makroethische relative Häufigkeiten der Pflichterfüllung auf allen gesellschaftlichen Ebenen eng
miteinander verknüpft.
Je relativ häufiger ethische Normen - beginnend mit denen größten Ranges und endend mit Normenübertretungen wie Taschendiebstahl -
laut regelmäßigen statistischen Messungen beachtet werden, desto mehr spricht dafür, dass zum Beispiel ein Staat und seine
Bürgerinnen und Bürger zusammen ihre jeweiligen Pflichten erfolgreich erfüllen. Denn erst dann wird niemand durch Not gezwungen,
ethische - oder mit ihnen verträgliche rechtliche oder moralische - Normen zu verletzen.
Wir legen den Soll-Zustand eines ethischen Systems versuchsweise so fest, dass in ihm alle elementaren ethischen Normen befolgt
werden, die zugehörigen Übertretungswahrscheinlichkeiten zu Null werden.
Die soziale Temperatur wäre dann ebenfalls nahe bei der Null.
Wenn elementare Normen weitgehend autonom befolgt werden, spricht Vieles dafür, dass auch die nichtelementaren in den
Grenzen unseres aktuellen Wissens beachtet werden.
Theoretisch sind hier gut gestützte Aussagen schwierig; wir sollten einfach mit solchen Messungen beginnen.
Was nie auszuschließen ist, sind Anteile von Übertretungen aufgrund charakterlicher Eigenschaften wie Gier, Neid oder
übersteigertem Ehrgeiz.
Diese Charakterschwächen kennen philosophische wie religiöse Versionen der Ethik seit Jahrtausenden. Im Christentum gelten solche
Verhaltensweisen als "sündig".
Wahrscheinlich sind die verbleibenden Übertretungen weitgehend auf Charakterschwächen zurückzuführen. Solchen Übertretungen können
nur staatliche Maßnahmen einigermaßen erfolgreich begegnen.
Wie diese Maßnahmen ethisch vertretbar aussehen könnten, behandeln wir im Abschnitt "Wiedergutmachung statt Strafe".
Ethischer Schaden durch normative Dilemmata
Die Versionen der Gesinnungsethik haben es versäumt, genauer darauf einzugehen, was zu geschehen hat, wenn ethische oder
kompatible moralische Normen übertreten worden sind. Wenn überhaupt Übertretungen thematisiert worden sind, wurden weitere
Überlegungen mit dem Hinweis auf das eigentlich zuständige Recht abgebrochen.
John Stuart Mill hat - dokumentiert in seinem berühmten Buch über den Utilitarismus - bereits erkannt, dass in jedem System von
Verpflichtungen Fälle vorkommen, in denen Verpflichtungen eindeutig einander widerstreiten.
Mill erklärt: "…dies sind die eigentlichen Schwierigkeiten und Probleme sowohl für die ethische Theorie als auch für das
gewissenhafte praktische Handeln".
In jeder normativen Theorie muss man die Entstehung solcher Kollisionen oder Konflikte in Kauf nehmen. Es kommt nur darauf an,
wie man sie am besten löst.
Einfache solche Konflikte bewältigen wir gefühlsmäßig meist richtig. Schon auf dem Schulhof kann ein gut trainierter älterer
Schüler einem schwächeren jüngeren erfolgreich beistehen, der von einem gleichaltrigen malträtiert wird.
Nicht immer sind in solchen Fällen der Notwehr Menschen bereit einzugreifen, die es aufgrund ihrer geistigen und körperlichen
Situation durchaus könnten. oft sind Umstehende nicht einmal bereit, einem Bedrängten gemeinsam beizustehen.
Allgemein übernimmt man beim Rückgriff auf normative Systeme die Verpflichtung, absehbare Folgen solcher einmal eingetretenen
Kollisionen für die darin Verwickelten so erträglich zu machen.
Wir halten fest: Durch jede Kollision entsteht Schaden, da ihr die Nichtbeachtung einer Norm vorausgeht. Dieser Schaden sollte
durch Intervention von Dritten so klein wie möglich gehalten werden. Ohne Intervention leiden die Opfer, und die Täter haben
unverdient den Gewinn.
Übrigens vertritt Kant die Auffassung bei Berücksichtigung des "kategorischen Imperativs" würden Kollisionen von Verpflichtungen
gar nicht erst auftreten. Denn die Vernunft könne - so Kant - nicht mit sich selbst uneins sein.
Warum außerhalb normativer Konflikte Normen unbedingt zu beachten sind
Wir haben immer wieder betont, wie wichtig die autonome Beachtung von Normen ist.
Wir erinnern uns an Appelle der Gesinnungsethik, der Moralphilosophie oder der Versionen einer religiösen Ethik: Moralische oder
religiöse Normen seien unbedingt zu beachten, unabhängig von irgendwelchen drohenden rechtlichen oder sozialen Sanktionen, also
Sanktionen wie Entrüstung, Verachtung oder Vertrauensentzug.
In dieser Forderung steckt risikoethisch ein wahrer Kern. Wenn jeder von uns schon jede moralische Norm "ohne wenn und aber"
beachtet, trägt er dazu bei, elementare ethische Risiken zu reduzieren, die mit der Beachtung dieser Normen verknüpft sind.
Zugleich verringert er - was von ihm abhängt - ethische Risiken, deren Erhöhung zur globalen Selbstzerstörung führen könnte.
So weit, so gut.
Stellen wir uns nun vor, ein Familienvater sei unter bürgerkriegsähnlichen Zuständen gezwungen, um seiner Familie und sich selbst
das Überleben zu sichern, fremde Sachen an sich zu nehmen, juristisch gesprochen: zu stehlen oder zu unterschlagen, zu betrügen
oder zu rauben.
Dann entsteht bei dem Bestohlenen wegen Eintritt des Risikos Diebstahl Schaden. Falls eine funktionsfähige Polizei existieren
und der Dieb zur Rede und vor Gericht gestellt werden würde, müsste das Gericht entscheiden, ob der zum Beispiel durch Diebstahl
entstandene Schaden für den Bestohlenen eher zu verschmerzen ist, als das Fehlen des Diebesguts für das Überleben der involvierten
Familie.
Solche Überlegungen sind für Gesinnungsethiker abwegig. Für sie gibt es nur schwarz oder weiß. So verhält sich auch die katholische
Weltkirche. Sie weiß, was der Gesellschaft frommt und verlangt daher von ihren Gläubigen die Befolgung göttlicher Verbote, auch
wenn diese im Einzelfall an den Rand einer noch menschenwürdigen Existenz gedrängt werden.
Durch einige wenige aktuelle Beispiele veranschaulichen wir im Folgenden, wie vielseitig sich die empirisch-normative Risikoethik
anwenden lässt Es sollte nach deren Lektüre jedem Leser und jeder Leserin möglich sein, eigene Beispiele nach gleicher Methode zu
behandeln, soweit dazu kein Rückgriff auf einen vollständigen Zustandsvektor notwendig ist.
Ethik des Wettbewerbs und sozialer Fortschritt
Da es der Lebenserfahrung von Jahrtausenden widerspricht, dass die Meisten ihre Pflichten autonom erfüllen, haben Verantwortliche
jedes Gemeinwesens Anreize zu schaffen, um auch diejenigen Menschen zu bewegen, ihre Pflichten optimal zu erfüllen, die es
könnten, es aus freien Stücken aber nicht tun.
Eine bewährte Methode, zu nicht immer freiwilligen Höchstleistungen zu kommen, ist der Wettbewerb, wobei den Besten Preise winken
(Sport und Wissenschaft) oder ihre hohen Leistungen entsprechend finanziell vergütet werden.
Wie jeder Wettbewerb, müssen auch ethisch gestützte zwischen Personen angesetzt werden, welche ungefähr in die gleiche Kategorie
der Leistungsfähigkeit gehören, die im Wettbewerb zu steigern sein soll.
Als Beispiel, das jeder kennt, mag der Sport gelten.
Im Wettbewerb ist alles erlaubt, was nicht explizit durch Spielregeln verboten ist, Im Bereich der Risikoethik: Es ist alles
erlaubt, was nicht durch ethische Normen untersagt ist.
Den Wettbewerb zwischen Akteuren vergleichbarer Leistungsfähigkeit, bei dem alle ethischen Normen autonom befolgt werden,
bezeichnen wir als fairen Wettbewerb.
Zwischen Teilnehmern eines fairen Wettbewerbs entfällt die aktive Verpflichtung, Schwächeren beizustehen. Denn dies würde
jeden Wettbewerb aushebeln.
Niemand darf daher gezwungen werden, sich einem Leistungswettbewerb, in welchem Bereich auch immer, zu stellen.
Zu den kollektiv wichtigsten ethisch notwendigen Leistungswettbewerben gehören der wirtschaftliche Wettbewerb und der Wettbewerb
in Wissenschaft, Forschung und Technologie.
Je mehr Menschen schon autonom bereit sind, sich solchen Wettbewerben zu stellen, desto mehr erhöht sich dadurch die zu erwartende
faktische kollektive Solidarität.
Da die autonome Befolgung nicht ausreichen dürfte, ist es ein Muss für die kollektive Vernunft einer jeden Staates, Anreize
anzubieten, um fähige, aber eher unwillige Akteure zu gewinnen, sich notwendigen Wettbewerben zu stellen.
Meist wird vom technischen Fortschritt gesprochen, wenn es um die Dynamik der wissenschaftlich-technischen Entwicklung geht.
Aus Sicht der Risikoethik ist Fortschritt mehr als wissenschaftlich-technische oder wirtschaftliche Dynamik.
Über die die risikoethische Rolle des Staates
Wegen Korrelationen zwischen Armut - absehbare Folge geringer kollektiver Solidarität - und Gewalt, haben Staaten, die zu einer
höher entwickelten Zivilisation gehören, schon aus Gründen der inneren Sicherheit heute auch die Aufgabe, für eine hohe
kollektive Solidarität zu sorgen.
Was den Terrorismus angeht, wäre dieser faktisch unmöglich ohne die Zerstörungsmittel, die technisch schon einem einzelnen Täter
zur Hand sind.
Jede einzelne Übertretung einer moralischen, einer mit der Moral zu vereinbarenden rechtlichen oder einer nichtelementaren
ethischen Norm wirkt sozial wie ein Infektionsherd; dies ist die wohl wichtigste "Nebenwirkung" jeder Übertretung.
Greift der Staat nicht unverzüglich ein, tritt ein Nachahmungseffekt in Kraft: Potentielle Täter erkennen, dass ihnen keine
Nachteile entstehen, wenn sie persönliche Konflikte durch Übertretung von Normen bewältigen und so zu Lasten Dritter Vorteile
erreichen können.
Es gilt auch hier das geflügelte Wort "Wehret den Anfängen". Daher ist der Staat wegen seines Konstitutionsprinzips verpflichtet,
sich bei Übertretungen von Normen zu Gunsten des Opfers und zu Lasten dessen, der als erster eine Norm übertreten hat,
einzumischen.
Bei der Einmischung des Staates geht es darum, einen von einem Täter bereits provozierten Schaden zu begrenzen und notfalls den
Täter auch gewaltsam zur Räson zu bringen.
Es gibt noch einen zweiten wichtigen Grund zur Einmischung: Nur der Staat hat die Möglichkeit, den Täter nachdrücklich zur -
wenigstens partiellen - Wiedergutmachung zu bewegen. Täter werden dazu autonom kaum bereit sein.
Täter, die - bisweilen auch nur unter staatlichem Druck - zur Wiedergutmachung bereit sind, gelten als resozialisierbar.
Die Gefahr, dass ein von der ersten Normübertretung infiziertes, indessen noch nicht destabilisiertes Land künftig destabilisiert
wird, rückt ohne unverzügliches Einmischen des Staates rasch näher.
Je mehr Opfer und Täter es gibt, für desto mehr Menschen sind moralische wie mit ihnen kompatible rechtliche Normen keine
universellen Win-Win-Regeln mehr. Die Gesellschaft wird gespalten in die Gruppe, die ungeschoren davon kommt, und die zweite,
für welche die Gesamtheit der Normen keine Win-Win-Regeln mehr sind.
Was sich risikoethisch zur Staatsform der parlamentarischen Demokratien sagen lässt
Staaten lassen sich untereinander nur vergleichen, wenn sie ungefähr den gleichen wissenschaftlich-technischen und wirtschaftlichen
Entwicklungsstand erreicht haben. Nur in der Menge gleich hoch entwickelter Staaten können wir vergleichend untersuchen, wie
häufig sie ihre ethischen Verpflichtungen tatsächlich erfüllt haben.
Je besser dann die Rechtsnormen des zu bewertenden Staates, unabhängig von seiner Verfassung, mit Normen übereinstimmen, die
Elemente des für den Staat konstruierten Regimes sind, desto besser ist - in einem ersten Schritt - der betreffende Staat
ethisch zu bewerten.
Darüber hinaus muss in einem zweiten Schritt durch vergleichende Untersuchungen nachgewiesen werden, ob parlamentarische Demokratien
statistisch signifikant bessere Werte für ihre Ist-Solidaritäten aufweisen als Staaten mit anderen Verfassungen. In einem dritten
Schritt gilt es nachzuweisen, dass die Werte ihrer Ist-Gerechtigkeit besser sind als bei Vergleichsstaaten, die keine
parlamentarischen Demokratien sind.
Die Risikoethik misst den tatsächlichen Zustand eines jeden Staates und setzt dessen Ist-Werte in Beziehung zu den jeweiligen
Soll-Werten. Insbesondere können wir für alle zu vergleichenden Staaten gleicher Entwicklungsstufe regelmäßig ihre soziale
Temperatur messen, welche die Abweichung der tatsächlichen Gewaltausübung vom Soll-Wert misst, bei dem keine Gewalt ausgeübt
wird, weder unter Bürgern, noch zwischen Bürger und Staat.
Erst wenn Ergebnisse dieser Messungen vorliegen, können parlamentarische Demokratien risikoethisch bewertet werden.
Wortreiche qualitative Erläuterungen oder qualitative Fragestellungen - wie hat die "Demokratie eine Zukunft" oder das "Prinzip
Hoffnung" - genügen nicht.
Da sich die ethische Bewertung von Staaten zudem mit der Zeit ändern dürfte, müssen Messungen in einem gewissen zeitlichen Abstand
oder aufgrund äußerer Anlässe erneuert werden.
So dürfte die Demokratie in den Vereinigten Staaten von Amerika unter dem "Gezerre" über den Staatshaushalt zwischen Kongress und
Präsident schwer gelitten haben. Hier ging es - wie früher schon in der "Weimarer Republik" - um Ideologien, nicht um den
Austausch von Argumenten.
Beispiel für einen aktuellen makroethischen Schaden
Wie wir seit dem 11. September 2001 wissen, verwenden global aktive Terroristen vollbesetzte Passagierflugzeuge als Waffen.
Passagiere werden dabei von Terroristen ebenso geopfert, wie die Menschen, die beim Einsatz der Waffe zu Tode kommen.
Ein einzelner solcher Fall trifft eine leistungsfähige Volkswirtschaft fast nicht. Aber das Wissen darum, dass die eigene
Regierung Bürgerinnen und Bürger nicht mehr ausreichend zu schützen vermag, da makroethischer Schaden - genauer makroethisches
Übel - eingetreten ist, erschüttert psychologisch eine Nation stärker, als es auf Grund der Fakten hätte geschehen müssen.
Aus Sicht der Bürgerinnen und Bürger hat es die Regierung versäumt, als Kontrollen national wie international versagt hatten,
gekaperte Flugzeuge rechtzeitig abzuschießen. Aufgrund des in den USA verbreiteten Utilitarismus wäre ein solches Vorgehen in
den Augen der Bevölkerung für richtig gehalten worden.
Auch in der empirisch-normativen Risikoethik kommt man zum selben Schluss. Wenn es nicht gelingt, von Terroristen gelenkte
Flugzeuge über dem Meer oder freiem Feld abzuschießen - kleineres Übel, weil absehbar kleinerer irreversibler Schaden - ,
wird durch nicht verhinderten Einsatz der terroristischen Waffe absehbar größerer makroethischer irreversibler Schaden entstehen
können, die als Geisel missbrauchten Passagiere haben bei beiden Alternativen - Einsatz oder Abschuss - keine Überlebenschance.
Das oberste deutsche Gericht kommt für solche - bisher hypothetischen - Fälle zu dem Urteil, vollbesetzte Passagierflugzeuge
als zerstörerische Waffe dürften nicht abgeschossen werden, weil so unschuldige Passagiere durch den eigenen Staat getötet werden
würden.
Die Wahl des messbar kleineren Übels ist dem Bundesverfassungsgericht fremd. Es befindet sich mehr auf Seiten der Gesinnungs- als
der Verantwortungsethik.
Wie lassen sich normative Dilemmata makroethisch beilegen?
Das Konstitutionsprinzip unserer Verantwortungsethik lässt sich in zwei Schritten umsetzen: Erst die Risikominimierung durch
Normen und - nach Übertretung einer Norm - Schadensbegrenzung durch Intervention.
Erster Anhaltspunkt für eine mögliche Einmischung ist der eingetretene erste Schaden. Der zur Wiedergutmachung oder Begrenzung
vom sich Einmischenden bewirkte zusätzliche Schaden sollte - wenn nach Lage der Dinge möglich - kleiner ausfallen als der
allein durch die erste Normübertretung bereits entstandene. Andernfalls könnte zumindest das Gerechtigkeitsempfinden der
Bevölkerung beeinträchtigt werden.
Zweiter Anhaltspunkt: Eine Wiederholung des ersten Falles sollte mit ethisch zulässigen Mitteln vermieden werden.
Einen einfachen Handtaschenräuber sollte man nicht niederschießen, selbst wenn er seine Beute in Sicherheit bringen könnte. Das
schätzen wir alle schon gefühlsmäßig so ein.
Zweitens: Wenn ein Bankräuber mit einer großen Menge Bargeld flieht, wäre es angemessen, diesem in die Beine zu schießen, um seinen
Raubzug zu stoppen; hier stimmen Risikoethik und geltendes Recht überein.
Im zweiten Fall geht es nicht nur darum, dass durch den Schuss der absehbare Schaden der Köperverletzung kleiner ausfällt als der
Wert des Raubes. Hier kommen zusätzlich makroethisch zu erwartende Risiken und Nebenwirkungen ins Spiel. Wenn ein erster Akt
räuberischer Selbstbedienung ohne unverzügliche und erfolgversprechende staatliche Reaktion bleiben würde, würde der absehbare
kollektive Gesamtschaden durch wachsende Zahlen von Wiederholungstätern überproportional rasch ansteigen.
Das Recht spricht von der Verhältnismäßigkeit einer Reaktion. Diese ist beim ersten Beispiel gewährleistet. Beim zweiten ist die
Abwägung durch die eine sich einmischende Polizeistreife schwieriger.
Da aber Reaktionen des Akteurs, der sich einmischt, rasch erfolgen müssen, ist mit jeder Einmischung das zusätzliche Risiko
verbunden, "über das Ziel hinauszuschießen".
Wir werden zeigen, dass die - statistisch gesehen - wirksamste Prävention in einer möglichst hohen kollektiven Solidarität
besteht. Diese ist aber nie zum Nulltarif zu haben.
Beilegungen, die Opfer und Täter so gerecht werden, wie es die Situation erlaubt, werden von der Bevölkerung aller Länder als
gerecht empfunden.
Bereits eine solch verbreitete Empfindung wirkt faktisch stabilitätsfördernd.
Da moralische Normen elementare ethische sind, lässt sich die risikoethische Argumentationsweise an einer Reihe akuter moralischen
Dilemmata gut veranschaulichen. Daher beschränken wir uns im Folgenden auf Normen, die risikoethisch leicht zu identifizieren sind.
Die folgenden Lösungsskizzen deuten an, wie akute ethische Probleme risikoethisch zu lösen sind, um unserer ethischen Verantwortung
gerecht zu werden. Interessierte Leserinnen und Leser sollten aufgrund der bisherigen Lektüre in der Lage sein, die Skizzen
selbst zu vervollständigen
Wie sollen wir risikoethisch mit Drogen umgehen?
Dass Drogen - Nikotin im Tabakrauch, Alkohol und Rauschgift - denen schaden, die sie nehmen, lehrt die Medizin.
Doch werden meist nicht nur Menschen, die Drogen zu sich nehmen, sondern weitere, die mit Drogen nichts zu tun haben,
gesundheitlich geschädigt. Am deutlichsten ist dies bei Passivrauchern nachzuweisen. Opfer im Verkehr durch alkoholisierte Fahrer
sind ebenfalls unmittelbare Folgen des Alkoholkonsums.
Diese Tatsachen reichen aus, um beispielsweise das Nehmen von Drogen durch ethische Normen zu verbieten. Dies gilt unabhängig von
eventuellen Verboten durch strafbewehrte Rechtsnormen, die auch Überzeugungen der politischen Mehrheit widerspiegeln.
Ein Dilemma entsteht, wenn Menschen süchtig sind und damit im Umgang mit "ihrer Droge" keinen freien Willen mehr haben. Hier ist
Einmischung angesagt von solchen Akteuren, die Abhilfe schaffen können. Etwa staatlichen oder kirchlichen Trägern von
Suchtkrankenhäusern, welche die Suchtkranken therapieren müssen. Suchtkranke dürfen - solange sie darunter leiden - ähnlich wie
Kranke mit ansteckenden Krankheiten, auf die Menschheit "nicht losgelassen" werden.
Ob strafbewehrte rechtliche Verbote zweckmäßig sind, liegt im politischen Ermessen. Hier sind ethische "Wenn-Dann-Aussagen"
unmöglich.
Äußerst fragwürdig ist die staatliche Förderung von Tabakanbau bei uns. Hier kollidieren ethische und politisch-wirtschaftliche
Vorgaben unversöhnlich.
Der Anbau von Drogen und der Handel mit ihnen würde im übrigen desto mehr zurückgehen - und damit auch Verbrechen, die in diesem
Bereich geschehen -, je besser es dem Staat durch präventive Suchtbekämpfung - und nicht durch Kriminalisierung der Sucht -
gelingt, die Nachfrage nach Rauschmitteln zu reduzieren. Diese ethische Erkenntnis in der Praxis durchzusetzen, ist Aufgabe der
Politik.
Das empirisch-statistisch bewährte Modell der Familie
Die auf Dauer angelegte heterosexuelle Lebensgemeinschaft mit gemeinsamen Kindern war - trotz Mängeln in Einzelfällen - das für
die Zukunft von Staat und Gesellschaft empirisch besterprobte Modell, um Kindern von ihrer Geburt an eine relativ optimale
soziale und kulturelle Umgebung zu bieten.
Daher lautet die zugehörige ethische Norm, alles zu unterlassen, was absehbar den Zusammenhalt der Familie riskieren könnte.
Und die zugehörige ethische Pflicht, alles zu tun, was den Zusammenhalt absehbar stärken könnte.
Um Überlebensrisiken für Staaten und Gesellschaften bestmöglich zu begrenzen und damit - wie wir gesehen haben - auch Individuen
den geringstmöglichen ethischen Lebensrisiken auszusetzen, ist es eine grundlegende Aufgabe von Staat und Gesellschaft - in
den Grenzen ihrer ökonomischen Leistungsfähigkeit - Familien materiell in den Stand zu setzen, ihre gesellschaftliche Aufgabe so
gut zu erfüllen, wie es die Eltern es im Rahmen ihrer Fähigkeiten vermögen.
Wenn sich in einer Familie Mutter und Vater dauerhaft gegenseitig herabsetzen, haben Mutter und Vater - jeder für sich - die
ethische Norm übertreten, nicht den Zusammenhalt der Familie zu riskieren.
Das dadurch entstandene normative Dilemma kann nur durch Intervention von außen beigelegt werden; diese Intervention - in
demokratischen Staaten nach Recht und Gesetz vorgenommen - läuft auf eine Trennung der Eltern hinaus; diese so vorzunehmen,
dass der bereits entstandene Schaden für die gemeinsamen Kinder bestmöglich begrenzt wird - indem die Kinder zwar einem Elternteil
zugesprochen werden, die gemeinsame Verantwortung für deren Zukunft indessen bestehen bleibt -, ist die eigentliche "Kunst", die
mit jeder Auflösung einer dauerhaften Beziehung verbunden ist.
Makroethisch ist die Gefahr eines kollektiven Chaos desto größer, je mehr auf Dauer angelegte heterosexuelle Lebensgemeinschaften
kinderlos bleiben. Da eine Einzelfallüberprüfung, ob eine solche Lebensgemeinschaft aus biologischen oder aus anderen Gründen
kinderlos bleibt, in der Praxis scheitern müsste, bleibt realistischer Weise nur übrig, mit politischen Mitteln darauf
hinzuwirken, dass statistisch möglichst viele dauerhafte heterosexuelle Lebensgemeinschaften zu Familien mit gemeinsamen Kinder
werden, die dann auch gemeinsam aufgezogen werden.
Gleichgeschlechtliche Partnerschaften
Es liegt auf der Hand, dass eine Zivilisation oder ein zu dieser gehörendes Land desto größeren Zukunftsrisiken ausgesetzt ist,
je häufiger auf Dauer angelegte Lebensgemeinschaften kinderlos bleiben. Eine gleichgeschlechtliche ist per se kinderlos. Daher
ist eine volle rechtliche Gleichstellung von Familie und gleichgeschlechtlicher Partnerschaft ist risikoethisch falsch.
Über Kinder in homosexuellen Lebensgemeinschaften, die von beiden Partnern oder Partnerinnen aufgezogen werden, gibt es naturgemäß
kaum belastbare Erfahrungen. Versuche dieser Art - Adoptionen von Kindern, die aus einer vorangegangenen heterosexuellen
Lebensgemeinschaft des einen Teils der neuen gleichgeschlechtlichen Partnerschaft stammen, oder Fremdadoptionen - sind daher
äußerst problematische - in der Medizin übrigens verbotene - Menschenversuche.
Menschen durchschnittlicher Intelligenz und gesellschaftlicher Leistungsfähigkeit können so gut wie immer als Eltern mehr zur
Zukunft ihres Landes beitragen, als durch Übernahme anderer zukunftsrelevanter Aufgaben, denen sie absehbar nicht gewachsen sind,
wie im Falle forschender, technisch entwickelnder, erziehender, heilender, pflegerischer oder künstlerischer Berufe, die nach
aller Erfahrung mit weit überdurchschnittlichen individuellen Anforderungen verbunden sind.
Warum Todestrafen risikoethisch falsch sind
Die Tötung eines Täters ist risikoethisch dann und nur dann zulässig, wenn in einer akuten Notwehrsituation das Opfer vor dem Täter
nur gerettet werden kann, wenn der potentielle Täter nur durch seine Tötung von einer drohenden Übertretung abgehalten werden kann.
Im Recht wird in solch einem Fall vom "finalen Rettungsschuss" gesprochen.
Dagegen ist dem Staat - bei einem gefassten Täter - dessen Tötung ethisch genau so verboten wie jedem Bürger oder jeder Bürgerin.
Weicht das staatliche Recht von dieser Vorgabe ab, führt es absehbar zu einem Anstieg mikro- und makroethischen Schadens.
Zudem kann ein vom Staat getöteter Übeltäter nicht mehr - und sei es in geringem Ausmaß wegen unzureichender Qualifikation - zur
Wiedergutmachung eines von ihm bewirkten Schadens beitragen.
In der uns vertrauten Terminologie: Es geht immer um die Resozialisierung, die Wiedereingliederung eines Täters. Wenn dies nicht
gelingt, bleibt nur noch der Schutz der Öffentlichkeit durch Sicherungsverwahrung. Die Besserung eines Täters durch zeitweises
Wegschließen ist wenig realistisch.
Freiheitsentzug als Strafe ist in der Risikoethik so wenig zulässig wie die Todesstrafe. Ethisch konstitutiv für jeden Bürger und
jede Bürgerin die eigene Autonomie.
Wiedergutmachung ersetzt Strafen
Für eine im Gerichtsurteil festgelegte Zeit wird - nach dem Nachweis, dass der Täter für die Tat verantwortlich war - diesem
auferlegt, zur Wiedergutmachung des von ihm bewirkten Schadens bestmöglich beizutragen.
"Bestmöglich" orientiert sich an seinem Bildungsstand, an seinen Einkommens - oder Vermögensverhältnissen oder an der Art der von
ihm zu leistenden Arbeit zur partiellen Wiedergutmachung. Vollständige Wiedergutmachung wird in den meisten Fällen die
Möglichkeiten eines Täters überfordern.
Bei Todesfällen hat zum Beispiel ein überführter Täter in einen Fonds einzuzahlen, durch den Opfer von Tötungsfällen finanziell
entschädigt werden. Die Höhe der Zahlung hat das Gericht festzulegen.
Wann ist Selbsttötung risikoethisch erlaubt?
Generell ist jede Selbsttötung normativ nicht zu rechtfertigen. Hier besteht kein Unterschied zwischen Moral und Risikoethik oder
zwischen Gesinnungs- und Risikoethik.
Denn eine rasch ansteigende Rate der Selbsttötung destabilisierte jede Gesellschaft nicht minder als eine rasch ansteigende Rate
von Fremdtötungen.
Wegen der Bedeutung der kollektiven Solidarität für das kollektive Überleben ist jeder verpflichtet, den ihm möglichen Beitrag zu
ihrer Erhöhung zu leisten.
Solidarität ist keine Einbahnstraße. Doch sind Art und Höhe der zu leistenden Beiträge von Mensch zu Mensch unterschiedlich.
Arbeitsleistungen für Staat und Wirtschaft werden in marktwirtschaftlichen Systemen - den historisch gesehen bislang
leistungsfähigsten - danach entlohnt, wie selten Kräfte für eine gesuchte Arbeitsleistung zu bekommen sind.
Wer sich selbst tötet, obwohl ihm eine Arbeitsleistung in den Grenzen seiner Fertigkeiten und Fähigkeiten möglich und auch zumutbar
ist, handelt risikoethisch unsolidarisch und daher pflichtwidrig.
Wenn jemand aufgrund seiner Situation keine Beiträge zur kollektiven Solidarität und auch keine für die eigene Familie mehr
leisten kann, steht risikoethisch einer Selbsttötung nichts im Wege.
Wann ist aktive Sterbehilfe ethisch zulässig?
Ein normatives Dilemma kann entstehen, wenn eine Person schwer krank oder behindert ist und sich selbst trotz ihrer Absicht nicht
töten kann.
Wenn nach dem Stand der Wissenschaft eine Besserung nicht zu erwarten ist, steht es - wie im letzten Abschnitt kurz begründet - dem
Kranken risikoethisch frei, sich selbst zu töten. Vermag er dies aus praktischen Gründen nicht, kann er von Personen, die
Kompetenzen und Mittel dazu haben, aktive Sterbehilfe fordern. Dies rechtlich zu untersagen, wäre risikoethisch unbegründet.
Für Staat und Gesellschaft gibt es bei solchen Fällen dagegen keine normative Dilemmata: Beide sind verpflichtet, das Leben des
Kranken wie jedes anderen Menschen so lange zu erhalten, wie es für solche Hilflosen möglich ist.
Eine Grenze könnte dann bestehen, wenn Staat und Gesellschaft so leistungsschwach sein sollten, dass Schwerstkranke zu behandeln
ihr eigenes kollektives Überleben gefährden würde.
Wann dürfen werdende Mütter abtreiben?
Treten Abtreibungen immer häufiger auf, gefährden sie nationales wie globales Überleben: Jede Abtreibung ist daher normativ zu
unterlassen.
Jede Mutter muss viel einzelne Pflichten erfüllen, schon um ein Kind gesund im Mutterleib heranwachsen zu lassen; erst recht
trifft dies zu, ist ein Kind einmal geboren.
Ohne fremde Hilfe von Seiten der Familie oder, wenn diese ausbleibt, von Staat und Gesellschaft oder Glaubensgemeinschaften, die
Abtreibung ablehnen, können die Pflichten einer Schwangeren und später einer Mutter nicht so erfüllt werden, wie es das absehbare
Wohl des Kindes erfordert.
Es geht nicht nur um eine Betreuung, wie sie Schwestern in Säuglings- oder Kinderheimen vornehmen können. Die biologischen Mütter -
ersatzweise auch Mütter, wie sie in SOS-Kinderdörfern angestellt werden - müssen bei Kindern auch das Sprach- und Denkvermögen von
Anfang an fördern und - bei allem Unterschied zwischen einzelnen Kindern - auch ein gewisses Maß an sozialer Eingliederung
vermitteln.
Fehlt diese kollektive Unterstützung für eine werdende Mutter, entsteht folgendes Dilemma: Ohne Kinder ist das kollektive Überleben
gefährdet. Ohne fremde Hilfe kann - von Ausnahmen abgesehen - weder eine werdende noch eine Kinder aufziehende Mutter persönlich
und sozial überleben.
Bleibt jede Form kollektiver Unterstützung dauerhaft aus, hat die Schwangere das Recht, das Ungeborene von Medizinern abtreiben
zu lassen, welche die Kompetenzen und Mittel dazu haben, dies so vorzunehmen, dass der Schwangeren kein bleibender gesundheitlicher
Schaden entsteht.
Ohne fremde Hilfe verfehlt ein Abtreibungsverbot die Eigenschaft einer sowohl kollektiven als auch individuellen Win-Win-Regel, wie
wir sie aus der Spieltheorie kennen: Die Gesellschaft profitiert von einem solchen Verbot, die werdende Mutter jedoch leidet ohne
fremde Hilfe schwer.
Sind humane Zygoten genau so geschützt wie ungeborene Kinder?
Moralisch umstritten, etwa im Bereich der pränatalen Diagnostik (PID), ist der Schutz humaner Zygoten, die in Reagenzgläsern
gezeugt worden sind, weil anders eine Frau aus biologischen Gründen keine Kinder hätte bekommen können.
Rechtliche wie religiöse Dogmatiker verkünden: Die humane Zygote genießt moralisch und rechtlich den gleichen Schutz wie
Menschen, die geboren sind. Hat doch die Zygote genetisch schon alle Eigenheiten des künftigen Menschen. Ob eine Zygote noch im
Reagenzglas ist oder eingepflanzt im Uterus der Mutter zu einem Menschen heranwächst, besitze sie - so "die feste Überzeugung" der
Dogmatiker - das volle Lebensrecht und genieße den gleichen Schutz durch das Tötungsverbot wie ein Neugeborenes, ein Kleinkind, ein
junger oder später ein erwachsener Mensch.
Ist diese rechts- oder religiös-dogmatische Aussage risikoethisch zu begründen?
Aus biologischer Sicht kann ein eingenisteter Embryo noch abgehen. Würde eine künstlich befruchtete Zygote unter einer - durch eine
PID zuvor festellbaren - Erbkrankheit leiden, gäbe es zwei wahrscheinliche Möglichkeiten: Entweder die Frucht geht aus biologischen
Gründen vorzeitig ab oder es wächst ein schwer geschädigtes Kind heran.
Da man Mütter gegen ihren Willen - dies hat in Deutschland der Gesetzgeber klar erkannt - nicht zwingen kann, ihr so geschädigtes
Kind auszutragen, bleibt eine Spätabtreibung straffrei.
Es wäre indes besser, man ließe die werdende Mutter unter medizinischer Beratung vor dem Einsetzen der Zygote entscheiden, ob sie
mit ihrem Partner unter diesen Umständen die Mühen einer Schwangerschaft und später die schweren zusätzlichen Anstrengungen, um
ein erblich schwer behindertes Kind aufzuziehen, auf sich nehmen kann und will.
Man kann moralisch nicht fordern, ein Held zu sein. Ebenso kann man von einer durchschnittlichen Mutter nicht fordern, die
psychisch, körperlich und geistig zu bewältigenden Aufgaben zu meistern, ohne die ein schwer behindertes Kind nicht aufzuziehen
ist.
Risikoethisch ist das kleinere Übel, eine Zygote vor dem Einsetzen in den Uterus abzutöten, als eine für die werdende Mutter
medizinisch viel riskantere Spätabtreibung vornehmen zu lassen.
Mikroethisch ist der Schutz einer Zygote in seinem Rang nicht zu vergleichen mit dem Schutz für ungeborenes - bereits im Mutterleib
existierendes - oder geborenes Leben.
Wie gerecht sind Staat und Gesellschaft?
Während John Rawls die Gerechtigkeit von Staat und Gesellschaft an fairen Umgangsregeln zwischen Menschen festmacht - seine
politische Ethik unterscheidet sich damit nicht grundsätzlich von einer Gesinnungsethik -, haben wir verständlich zu machen
versucht, dass der Ist-Zustand der kollektiven Gerechtigkeit davon bestimmt wird, ob es gelingt, durch hohe kollektive Solidarität
den Ausbruch normativer Dilemmata schon präventiv zu verhindern. Nur wenn dies an Fakten scheitert, die wir nicht steuern können,
bleibt, durch Einmischung von außen mit möglichst wenigen zusätzlichen Risiken und Nebenwirkungen bereits entstandenen Schaden zu
begrenzen. Dabei ist - wie wir wissen - jede Begrenzung mit normativen Dilemmata verknüpft.
Das Verhältnis beigelegter Dilemmata im Verhältnis zu ausgebrochenen, berechnet jeweils für Normen gleichen Ranges und beginnend
mit Normen höchsten Ranges, beschreibt eine Möglichkeit in der empirisch-normativen Risikoethik, die Ist-Gerechtigkeit von Staat
und Gesellschaft zu bestimmen.
Am besten wäre es, es würden gar keine Normenübertretungen auftreten und so keine normativen Dilemmata provoziert werden. In einem
solchen fiktiven Fall des Fehlens jeglicher Übertretung ethischer Normen wäre Gerechtigkeit für niemand ein Problem. Wir könnten
mit Fug und Recht den Soll-Zustand der kollektiven Gerechtigkeit so erklären.
Einen weiteren Anhaltspunkt für die Ist-Größe der kollektiven Gerechtigkeit bietet die Häufigkeit, mit der im für Staat und
Gesellschaft konstruierten Zustandsvektor Normen eines bestimmten Ranges übertreten werden. Dann lässt sich eine Aussage über
die Ist-Größe der kollektiven, der makroethischen Gerechtigkeit machen: Treten nennenswerte Übertretungshäufigkeiten nur bei
den "hinteren Rängen" auf, ist die Ist-Gerechtigkeit relativ nahe der Soll-Gerechtigkeit.
Ein augenfälliges Zeichen extremer kollektiver Ungerechtigkeit ist es, wenn die größte Häufigkeit bei vorzeitigen Todesfällen
als Folge von Übertretungen einschlägiger Normen zu verzeichnen ist, ob diese nun von Bürgerinnen und Bürgern oder von einem
"repressiven" Staat zu verantworten sind.
Insbesondere sind volle Haftanstalten ein untrügliches Zeichen für eine relativ ungerechte Gesellschaft, wobei es keine Rolle
spielt, ob die Haftstrafen von Gerichten "legal" verhängt worden sind.
Wann ist risikoethisch ein Staat ein Sozialstaat?
In der deutschen Verfassung, dem Grundgesetz, wird deklariert, die Bundesrepublik sei ein Sozialstaat. Das Grundgesetz schweigt
sich indessen darüber aus, welche Kriterien einen Sozialstaat ausmachen.
Aus risikoethischer Sicht ist nur ein Staat mit statistisch gemessener großer kollektiver Solidarität "Anwärter" für einen
Sozialstaat. Da Solidarität keine Einbahnstraße ist, hat dazu jeder seinen ihm möglichen aktiven Beitrag zu leisten.
Ein Beitrag dazu, den jede arbeitsfähige Person leisten kann, ist Arbeit. Entweder bezahlte oder unbezahlte Arbeit, zum Beispiel
in Gestalt von Familienarbeit oder ehrenamtlicher Arbeit für NGOs, Nichtregierungsorganisationen mit wesentlicher caritativer
Komponente; dazu gehören Kirchen, kirchliche Organisationen wie Diakonie oder Caritas oder andere öffentlich anerkannte
Hilfsorganisationen wie Welthungerhilfe oder Rotes Kreuz.
Risikoethisch besteht die Pflicht, die Arbeit autonom zu leisten, die man aufgrund erworbener Kompetenz und Expertise leisten kann.
Die Forderung nach Autonomie ist hier - wie auch sonst bei Pflichten - deshalb gerechtfertigt, weil Kontrollen und bei
Unwilligkeit Druck von staatlichen Stellen Ressourcen verschlingen, die für andre soziale Aufgaben fehlen.
Auch der für die (evangelische) Religion wichtige Gründungs-Theologe Martin Luther verkündet:"….Gott will keine faulen Müßiggänger
haben, sondern man soll treu und fleißig arbeiten, ein jeglicher nach seinem Beruf und Amt….". Luthers Diktum folgt einer
Schriftstelle bei Paulus:"Wenn jemand nicht arbeiten will, soll er auch nicht essen". (2. Thessalonicher Brief 3,10).
Die Risikoethik kommt so - aus ihren inhärenten Gründen - in diesem Zusammenhang zum gleichen Ergebnis wir die
evangelisch-theologische Ethik.
Ein gut eingeführtes deutsches Lexikon der Politikwissenschaft erläutert den Begriff ‚Sozialstaat' folgendermaßen: eine
"politische Organisations- und Herrschaftsform, in der dem Staat über die klassischen Funktionen der Gewährleistung äußerer und
innerer Sicherheit sowie bürgerlicher Freiheitsrechte hinausgehend die Aufgabe zugewiesen ist, regulierend und korrigierend in
wirtschaftliche und gesellschaftliche Abläufe einzugreifen, um anerkannten Grundsätzen einer erstrebenswerten Sozialordnung Geltung
zu verschaffen."
Wegen der bereits erläuterten Wichtigkeit kollektiver, makroethischer Solidarität für das Überleben eines jedes Staates ist
risikoethisch eine notwendige Voraussetzung für staatliche Hilfe, dass Menschen, die eine Arbeitsleistung erbringen können -
und sei sie wegen der Grenzen ihres Leistungsvermögens noch so klein -, diese als eine Art Vorleistung tatsächlich erbringen.
Erst wenn die Vorleistung erbracht wird, ist es aus risikoethischer Sicht sinnvoll, dass der Sozialstaat finanziell Hilfe leistet.
Zum Kernbestand der Ethik, gleich welcher Provenienz, gehören individuelle Beiträge jedes arbeitsfähigen Menschen zum
Zusammenhalt - wir können auch sagen zum Überleben - der eigenen Gesellschaft; für solche ihm mögliche Beiträge trägt jede
Bürgerin und jeder Bürger Verantwortung.
Es ist ethisch und politisch ein Skandalon, dass in Deutschland Angehörige aufeinander folgender Generationen Sozialhilfe
beziehen, ohne je mit Hand oder Kopf gearbeitet zu haben. Bei Migranten trifft dies überwiegend auf Männer zu, denn Frauen leisten
ihren Arbeitsbeitrag meist dadurch, dass sie die Hauptlast der Kindererziehung tragen.
Soziale Sicherheit als politischer Beitrag zur inneren Sicherheit
In den westlichen Demokratien ist die innere Sicherheit - statistisch gesehen - am ehesten gefährdet, wenn der Staat nicht die
kollektive Solidarität optimiert.
Wenn man die Marktwirtschaft als relativ bestes Wirtschaftssystem betrachtet, dann spiegeln die Arbeitseinkommen in der Wirtschaft
den Ausbildungsstand, die Expertise und vor allem die Verfügbarkeit von gesuchten Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen die
entscheidende Rolle. Beim Staat geht es bei Einstellung und Vergütung um die in der Ausbildung erreichte höchste Qualifikationsstufe.
Eine vergleichbar systematische Überprüfung der Arbeitsleistungen nach der Einstellung - wie in der Wirtschaft meist üblich - ist
bei staatlichen Stellen weniger üblich. Außerhalb der Universitäten gibt es nur wenig Wettbewerb.
Was Menschen zum Leben brauchen, hat nichts zu tun mit dem, was sie für Staat oder Wirtschaft tatsächlich leisten können. Daher
bedarf es einer politischen Entscheidung darüber, welches verfügbare Einkommen ein Einzelner oder eine Familie - auch mit zwei
Verdienenden - benötigt, um "menschenwürdig" leben zu können.
Auch "menschenwürdig" ist ein rechtlicher oder politischer, kein genuin ethischer Begriff.
Am sozial zielgenauesten dürfte ein Verteilungssystem sein, bei dem in einer einzigen politisch und rechtlich verantwortlichen
Behörde der Einzug von Steuern wie der Bezug von Sozialleistungen liegt. Wenn das zu versteuernde Arbeitseinkommen unter einem
vom Staat jährlich neu festzulegenden Minimum liegt, ergeht von dieser Behörde ein Bescheid, der staatliche finanzielle Hilfen
vorsieht: Das System arbeitet somit mit positiven und negativen Steuern.
Wer nicht arbeitet, obwohl ausreichend Arbeitsplätze angeboten werden und er körperlich und geistig befähigt ist zu arbeiten,
erhält keine Sozialhilfe. Doch wird Familienarbeit bezahlter Arbeit grundsätzlich gleichgestellt. Die jeweilige Äquivalenz zum
Arbeitseinkommen - abhängig auch von der Zahl der Kinder - muss politisch festgesetzt werden.
Der Staat hat die Möglichkeit, für herausragende unbezahlte Arbeit - etwa in caritativen oder erziehenden Organisationen -
ebenfalls ein einem Arbeitsentgelt äquivalentes Einkommen festzulegen.
Die jährliche Statistik der inneren Sicherheit, somit die Höhe der leicht messbaren sozialen Temperatur, dürfte relativ genau
widerspiegeln, wie gut die Verteilung von Sozialleistungen in der Praxis gelingt.
Schluss
Aufgrund unserer Skizzen sollte es Leserinnen und Lesern möglich sein, selbst gewählte Beispiele risikoethisch durchzuspielen,
sofern dafür Forschungsergebnisse nicht Voraussetzung sind.
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