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Ethik in der Informatik
ETHISCH-GESELLSCHAFTLICHE RANDBEDINGUNGEN VON INFORMATIKINNOVATIONEN
Hermann Rampacher, Bonn
Sektionsbeitrag für den XVI. Deutschen Philosophischen Kongress vom 20.-24.09.1993
Vorgetragen am 24. September 1993 in Berlin
1. Einführung und Fragestellung
Wer Macht über Menschen ausübt, der trägt Verantwortung und muß sich für absehbaren Folgen seiner Taten vor den davon Betroffenen rechtfertigen. Je größer seiner Macht, sein freies Ermessen und sein Wissen über Folgen, desto größer seine Verantwortung.
Bereits 1620 erkannte Francis Bacon (1): "Scientia et potentia hu-mana in idem coincidunt, quia ignoratio causae destituit effectum". Die empirisch gehaltvollen und mächtigen Theorien der Naturwissenschaften bezweckten eine Erklärung der Welt, nicht ihre Veränderung; doch gerade der hohe empirische Gehalt der kognitiven Komponente der Naturwissenschaften ermöglicht durch ihr systematisches Ursachenwissen deren innovative Komponente und damit den Erfolg der Technik.
Am Beispiel der Informatik als der zentralen Disziplin des "Informationszeitalters" sollen spezifische Aspekte der Verantwortung in den innovativen Wissenschaften untersucht werden. Während ingenieur-wissenschaftliche Innovationen sich darauf beschränken, körperliche Arbeit Maschinen zu übertragen, zielt die Informatik darauf ab, auch typische geistige Arbeiten von eigens dafür konstruierten "Informatik-Systemen" ausführen zu lassen. Dies hat zur Folge, daß die Informatik, hier gleich den Ingenieurwissenschaften, einmal gezielt die Lebenswelt verändert, zum andern aber, ungleich den Ingenieurwissenschaften, durch ihre hohe Potentialität nicht absehbare Veränderungen bewirkt, hier durchaus vergleichbar der kognitiven Komponente der Naturwissenschaften.
Folgen menschlichen Verhaltens sind nie sicher vorhersehbar. Deshalb haben sich im Laufe der geschichtlichen Entwicklung moralische Normen herausgebildet, meist individuelle Handlungsverbote, die - freilich nur im Falle ihrer universellen Befolgung - bestimmte negative Folgen für betroffene Menschen ausschließen. Wegen der in ihrer Wirkung eng begrenzten technischen Mittel handelt es sich bei überkommenen moralischen Normen um typische Kleingruppen-Normen, welche die bisherige philosophische Ethik zu begründen suchte.
Wegen der Globalisierung unserer Lebensbedingungen durch Wissenschaft und Technik, reichen überkommene moralische Normen nicht mehr aus, befriedigen bisherige ethische Begründungsversuche nicht mehr, muß der Verantwortungsbegriff erweitert werden: Hans Jonas (2) verdanken wir die wohl eindrucksvollste Darlegung der Notwendigkeit einer umfassenderen Verantwortungsethik.
Auf der Grundlage eines postulierten Modells sollen Verhaltensnormen ohne Rückgriff auf die Metaphysik begründet, Normenkonflikte besprochen und erste Anwendungen des Modell auf typische Problemstellungen in der Informatik skizziert werden. Abschließend wird - gewissermaßen als praktische Konsequenz - vorgeschlagen, wie wissenschaftliche Fachgesellschaften zu einer sinnvollen Aufteilung individueller Verantwortung in der Informatik beitragen können.
2. Verhaltensnormen als universell geltende Handlungsanweisungen in einer gewaltfreien humanen Gesellschaft
Folgende Postulate konstituieren "Die Theorie der Lebenschancen" als Modell einer humanen Gesellschaft:
(I) Humanität: Eine Gesellschaft ist genau dann human, wenn alles auf das Zusammenleben ausgerichtete Handeln bezweckt, die aufgrund des wissenschaftlich-technischen Status der Gesellschaft möglichen Lebenschancen relativ zu optimieren: individuelle für alle Menschen unter der Randbedingung einer optimalen Lebensqualität, auf Art und Gattung bezogene für alle übrigen Lebewesen.
(II) Stabilität: Eine vorgegebene Handlungsanweisung ist dann eine moralische Norm, wenn ihre universelle Geltung für die soziale Stabilisierung von (I) argumentativ notwendig ist.
(III) Subsidiarität: Alle Handlungssubjekte, also Individuen, Gruppen und Gruppen von Gruppen, genießen im Rahmen von (1) jeweils relativ optimale Gestaltungsfreiräume, für die sie Verantwortung tragen; genau die Entscheidungen bezüglich des humanen Zusammenlebens nach (1), die nicht von den Individuen oder den kleinst möglichen betroffenen Gruppen kompetent getroffenen werden können, werden allein aus vernünftiger Einsicht an kompetentere Handlungssubjekte delegiert.
Zu (I):
Bis heute kennen wir keine vernünftige und zugleich verbindliche Antwort auf die alte Frage nach dem "glücklichen Leben", somit existiert keine schwächere Voraussetzung als (I), modellhaft eine humane Gesellschaft einzuführen. Lebenschancen sind alle realisierbaren alternativen Optionen, das eigene Leben frei und damit in eigener Verantwortung zu gestalten. Lebensqualität bedeutet die über alle Individuen gemittelten realisierten Lebenschancen. Eine humane Gesellschaft ist notwendig pluralistisch.
Art und Umfang der Lebenschancen - diesen Begriff verdankt der Autor Ralf Dahrendorf (3) - hängen von den natürlichen Gaben und der spezifischen Biographie eines Menschen, von der Art des Zusammenlebens sowie offensichtlich vom wissenschaftlich-technischen Status der humanen Gesellschaft ab. So lassen sich zwei Gesellschaften denken, bei denen die erste fast allen Individuen weitgehend einheitliche Lebenschancen einräumt, die zweite dagegen unterschiedliche mit einer gegenüber der ersten Gesellschaft höheren Lebensqualität: damit ist im Sinne von (I) die zweite die bessere!
Zu (II):
Keine Gesellschaft kann ohne Regeln des Zusammenlebens stabil existieren und damit ihren Gesellschaftszweck erfüllen. Ein Beispiel: die "Verkehrsgesellschaft". Ihr funktionaler Zweck ist, relativ optimal zu individuellen Zielen zu gelangen; diese Ziele sind nur dann sicher erreichbar, wenn alle Verkehrsteilnehmer auf der Basis der Verkehrstechnik individuelle Verkehrsregeln, Gebote und Verbote, strikt einhalten. Auch der funktionale Zweck jeder humanen Gesellschaft, individuelle Lebenschancen relativ zu optimieren, ist nur dann gesichert, wenn sich alle Bürger einzeln und in Gruppen an Verhaltensnormen halten, die nur durch ihre universelle Geltung ihre Funktion für die Gesellschaft erfüllen können. Das Modell anerkannt nur solche Verhaltensnormen, die eine humane Gesellschaft, und nur eine humane Gesellschaft, stabilisieren. Wenn diese Verhaltensnormen, durch reine Argumentation gewonnen, aus vernünftiger Einsicht strikt eingehalten werden, sprechen wir von einer - gewaltfreien - idealen Bürgergesellschaft.
Zu (III)
Wir empfinden eine Ordnung als human, die notwendige Entscheidungen auf die unmittelbare soziale Umgebung konzentrieren, also "höhere Instanzen" genau dann einschalten, wenn die Kompetenz des Individuums oder der direkt betroffenen kleinsten Gruppen zur relativen Optimierung individueller Lebenschancen nicht ausreicht, die Entscheidung nicht "verantwortet werden kann". In der Informatik spricht man von "verteilter Intelligenz", in Betrieben von einer möglichst weitgehenden Delegation von Entscheidungsbefugnissen "vor Ort", in der Volkswirtschaftslehre von einer Marktwirtschaft, im staatlichen Bereich von föderalen Strukturen, in der Sozialethik von Subsidiarität. Mitverantwortung von Individuen in Gruppen (4) setzt anteilige individuelle Entscheidungsfreiräume voraus.
"Eine Theorie der Gerechtigkeit" von John Rawls (5,6), hat Gemeinsamkeiten mit "Der Theorie der Lebenschancen". Rawls Grundgedanke: die gültigen universellen Verhaltensnormen einer Gesellschaft werden durch einen gedachten rationalen Diskurs freier und mündiger Bürger unter dem "Schleier der Ungewißheit" gewonnen. Der methodische Evaluierungsprozeß steht unter dem obersten Prinzip "Gerechtigkeit als Fairneß": alle Verhaltensnormen, die in dem gedachten Diskurs als fair angenommen werden, gelten als ethisch gerechtfertigt. Welche Abweichungen zwischen beiden Modellen existieren, bedarf einer sehr detaillierten Untersuchung.
3. Normenkonflikte und das Handlungsprinzip "Duldung und Einmischung"
Keine reale Gesellschaften ist gewaltfrei, damit treten Normenkonflikte auf, welche notwendig die Symmetrie der Universalität von Verhaltensnormen brechen, wie sie in der idealen und nur in der idealen Bürgergesellschaft begründbar sind. Normenkonflikte sind die grundlegendsten sozialen Konflikte (7). Die meisten Demokratien des Westens kommen einer "realen Bürgergesellschaft" (7) nahe: in dieser orientieren sich die meisten Bürgerinnen oder Bürger in ihrem für das Zusammenleben wichtigen Handeln an (I), (II) und (III) orientieren; die Orientierung geschieht entweder aus vernünftiger Einsicht oder aus Furcht vor Strafe, weil aus Gründen der Stabilität der Gesellschaft die wichtigsten moralischen Normen in Rechtsnormen überführt und deren universelle Geltung durch Strafandrohungen erzwungen werden.
Ursachen von Normenkonflikten: erstens mangelnde vernünftige Einsicht in die Notwendigkeit von moralischen Normen nach (II) oder fehlende Bereitschaft, überlieferte, z.B. religiöse, moralische Normen unbesehen einzuhalten; zweitens Unkenntnis der tatsächlichen Zusammenhänge (mangelnde Kompetenz) in der komplexen modernen Gesellschaft, so daß Normenverstöße gar nicht als solche erkannt werden; drittens fehlender Wille vieler Bürger, moralische Normen, deren Notwendigkeit sie einsehen, deren Einhaltung sie bei anderen voraussetzen, auch für sich selbst gelten zu lassen; viertens sogenannte "pathologischen Gesellschaften", wo Regierung, Behörden, Schichten oder Gruppen laufend und systematisch gegen Verhaltensnormen verstoßen, deren Einhaltung sie von ihren Bürgern fordern.
In realen Gesellschaften verhindert eine strenge Orientierung an Verhaltensnormen, die eine gewaltfreie humane Gesellschaft stabilisieren, nicht notwendig negative absehbare Folgen für Betroffene. Auch reichen klassische Normen, welche die Form von Verboten haben, für die Erreichung des Zwecks (I) nicht aus. Die strenge Orientierung verantwortlichen Verhaltens an universellen Normen wird ersetzt durch das
(IV) Handlungsprinzip "Duldung und Einmischung": Einmischung ist genau dann geboten, wenn die relative Optimierung von Lebenschancen im eigenen Entscheidungsbereich nur durch eine relative Beschränkung individueller Lebenschancen solcher Personen erreicht werden kann, die durch einen Normenverstoß einen Normenkonflikt provoziert haben; absehbar negative Folgen werden dadurch vermindert, daß höheren Verhaltensnormen zu Lasten der niedrigeren Geltung verschafft wird.
Das postulierte Handlungsprinzip könnte Kants (8) Kategorischen Imperativ ersetzen. Es gilt für Individuen wie für gesellschaftliche oder staatliche Institutionen im moralischen oder im rechtlichen Bereich, wenn der Normenbegriff entsprechend verwandt wird. Die bloße Existenz von Normenkonflikten erzwingt eine Aufspaltung der nach (II) zu begründenden universellen Handlungsanweisungen, die in einer idealen Bürgergesellschaft alle gleichwertig sind: Normen können in realen Gesellschaften nur in erster Näherung universelle Geltung beanspruchen, sie werden in einer realen Bürgergesellschaft in ihrer Bedeutung für die Sicherung von (I), (II) und (III) bewertet, in einer beliebigen Gesellschaft für die Sicherung von (I) und (II) nur im eigen Entscheidungsbereich.
Immanuel Kant (9) und John L. Mackie (10) suchen - ähnlich wie der Autor - zu begründen, daß selbst "ein Volk von Teufeln" oder auch "Kriminelle und Diebe", wenn sie nur vernünftig sind, allgemeine Regeln nach Art von (II) im wohlverstandenen eigenen Interesse einhalten. In realen Bürgergesellschaften sind diese Regeln die Grundrechte und Gesetze, die durch Konsens, nicht aber durch Argumentation gewonnen und deren Geltung notfalls durch Strafandrohung durchgesetzt wird. Gesetze sind aber, da sie rasch veralten, weniger effektiv als die den Notwendigkeiten der modernen komplexen Gesellschaft flexibler anpaßbaren, der Höhe nach geordneten moralischen Normen nach (I) und (II).
4. Normen für verantwortbare Entscheidungen in der Informatik
Sprachlich sind Verhaltensnormen universelle Soll-Vorschriften, keine Tatsachenaussagen. Z.B. als Verhaltensnorm, die auch für Institutionen sinnvoll ist: "Erhalte Leben!", auf der individuellen Ebene als intensional eingeschränktes Verbot "Töte nicht!" Da die den Aufforderungscharakter der Soll-Vorschrift korrekt wiedergebende Befehlsform psychologisch abschreckend wirkt - man sieht förmlich den erhobenen Zeigefinger! -, hat das Grundgesetz die - falsche - Form einer Tatsachenbehauptung vorgezogen, z.B. die Formulierung "Die Würde des Menschen ist unantastbar!" gewählt.
Sprachlich und intentional unterschiedliche moralische Normen hängen bisweilen eng zusammenhängen: wer ein Informatik-System entwickelt, von dem Menschenleben abhängen, gefährdet durch Lügen beim späteren Einsatz Menschenleben. Zahl, Auswahl oder sprachliche Formulierung von moralischen Normen ist somit in gewisser Weise willkürlich. So sei nach Gegenstandsbereichen geordnet: Leben, funktionale und zeitliche Stabilität; beispielhaft seien einige für verantwortliches Verhalten in der Informatik typische Normen genannt.
4.1 Leben
Nach Definition der WHO von 1948 ist Gesundheit der Zustand vollkommenen physischen, psychischen und sozialen Wohlbefindens. Die Norm "Gesundheit zu erhalten" ist die umfassendste Norm, menschliches Leben zu erhalten; sie gilt in der Informatik immer, da Gefährdungspotentiale ausgeschlossen sind. Daraus folgen Regeln für die Systemgestaltung: z.B. fehlertolerable Systeme, Hard- und Softwareergonomie, sowie die Aufforderung, im Sinne von (I) spezielle Systeme für Behinderte und Informatik-Systeme für Diagnostik, Therapie, überwachung und Vorsorge zu entwickeln. Leben zu erhalten ist die höchste aller sozialen (moralischen und rechtlichen) Normen.
4.2 Funktionale Stabilität
Jede humane Gesellschaft kann ihre Aufgabe für die in ihr lebenden Individuen nur bei stabilen Zusammenleben erfolgreich erfüllen.
4.2.1 Wahrheit
Universelle Lügen destabilisieren alle sozialen Systeme. Beruflich gilt diese Norm in der Informatik ohne alle Einschränkung, sei es individuell, sei es, wenn nach (III) innerhalb von Gruppen anteilig Verantwortung zu tragen ist; ein Informatiker handelt individuell der Norm entsprechend z.B. durch Ablehnung von Arbeit außerhalb sei-nes Kompetenzbereichs und Erhaltung seiner fachlichen Kompetenz. Wahrhaftigkeit ist zusammen mit der Norm, die Gesundheit und den "Frieden mit der Natur" zu erhalten, die höchste Verhaltensnorm.
4.2.2 Effizienz
Informatik kann nur bei effizientem Einsatz sämtlicher personeller und materieller Ressourcen Lebenschancen optimieren: Diese Verhaltensnorm gilt universell. Auf der individuellen Ebene heißt dies: "Sei bereit, im Rahmen deiner Möglichkeiten dein Bestes zu geben!"
4.2.3 Aufklärung
Aufklärung ist in der realen Bürgergesellschaft notwendige Bedingung für deren Funktionsfähigkeit. Die geforderte Aufklärung ist nur möglich, wenn die Informatik auch "Visionen" bereitstellen, technisch mögliche Szenarien, die zur Optimierung von Lebenschancen beitragen können. Auch wenn selbst bei besten Methoden die tatsächlichen Folgen des wissenschaftlich-technischen Wandels nicht absehbar sind, wären Aufklärung und Beratung ohne Wirkungs-, und Risikoforschung sowie möglichst zuverlässiger Technik-Folgen-Abschätzung bei allen Informatik-Entwicklungen unverantwortlich.
4.3 Zeitliche Stabilität
Wegen des absehbar hohen Gefährdungspotentials durch Wissenschaft und Technik trägt die heutige Generation, insbesondere auch in der Informatik, Verantwortung für alle zukünftigen Generationen. Andererseits kann nur eine aktive Wissenschaft notwendige Voraussetzungen für eine wirksame Zukunftsvorsorge schaffen.
4.3.1 Frieden mit der Natur
Die Appelle, den "Frieden mit der Natur zu sichern" (11) und "Leben zu erhalten" gehören gemäß (I) zu den höchsten Verhaltensnormen für die Zukunftsvorsorge, da sie in allen Gesellschaften universell gel-ten. Ohne eine weitgehende Erhaltung bzw. Wiederherstellung der natürlichen Regelkreise ist die biologische Zukunft dieser Erde gefährdet. Dies impliziert nach (I) auch eine Erhaltung der Tier- und Pflanzenwelt. Die Informatik vermag wegen der "Intelligenz" ihrer Systeme entscheidende Beiträge zu einer umfassenden "Kreislaufwirtschaft" und zur überwachung der Umwelt zu leisten.
4.3.2 Bildung
Die Informatik stellt neben Lesen, Schreiben, Rechnen eine neue maschinell orientierte Kulturtechnik bereit, ohne die kaum noch eine Berufstätigkeit übernommen werden kann. Gesellschaftliche Verantwortung in der Informatik impliziert, Umfang und Tiefe dieser "Informatik-Grundbildung" zusammen mit den zuständigen Behörden kompetent festzulegen. Dazu gehört, im Unterricht für alle Stufen Chancen wie Risiken der Informatik gleichermaßen gründlich zu behandeln, was erfordert, "Informatik und Gesellschaft" als Studien- und Forschungsfach für Lehrer einzuführen.
5. Beispiele relevanter Normenkonflikte in der Informatik
5.1 Maschinelle Entscheidungssysteme
Der Ersatz menschlicher durch maschinelle Intelligenz in dedizierten Informatik-Systemen scheint keine prinzipiellen Grenzen zu haben. So liegt der Versuch nahe, in bestimmten Grenzsituationen auch menschliche Entscheidungen an Informatik-Systeme zu delegieren, z.B. dann, wenn lebensrettende Maßnahmen in der Unfall-Medizin oder bei Angriffshandlungen im Kriegsfall so schnell getroffen werden müssen, daß ein Mensch wegen seiner psycho-physischen Grenzen weder die entscheidungsrelevanten Informationen rasch genug aufnehmen noch dem Zeitablauf entsprechend rasch auswerten kann. Das Dilemma: bleibt die Entscheidung dem Menschen überlassen, kann er sie aus Zeitgründen nicht wahrnehmen, wird sie an das System delegiert, existiert keine verantwortliche Instanz.
5.2 Wettbewerb und Solidarität
Das Dilemma: Rationalisierung durch Informatik vermindert die Zahl der "einfacheren" Arbeitsplätze, stabilisiert andererseits die Wettbewerbsfähigkeit der "schlankeren" Unternehmen und erhält so wenigstens die reduzierte Zahl der Arbeitsplätze. Ein lenkender öffentlicher Eingriff in das Wettbewerbsverhalten müßte das Subsystem Wirtschaft destabilisieren, seinen Beitrag zur relativen Optimierung von Lebenschancen äußerst gefährden. Der Konflikt ist zwischen Wettbewerb als überlebensstrategie nach außen und Solidarität als Stabilitätsforderung nach innen ist nur politisch zu lösen, er muß der öffentlichkeit durch die Informatik bewußt gemacht werden.
5.3 Selbstbestimmung und innere Sicherheit
Der "gläserne Mensch" stellt eine Horrorvision dar. In realen Bürgergesellschaften darf die Selbstbestimmung über die eigenen Daten grundsätzlich nicht angetastet werden. Andererseits kann die rechtzeitige Verfügung über bestimmte Angaben bei Verdächtigen Leben und Gesundheit anderer Menschen bewahren. Entscheidungen über den Datenschutz sind politisch äußerst sensibel. Das verantwortliche Verhalten in der Informatik beschränkt sich auf eine kompetente Aufklärung der öffentlichkeit über Chancen und Risiken.
5.4 Verteidigung
Auch jeder Verteidigungskrieg zerstört Lebenschancen irreversibel, widerspricht also (I). Bürgergesellschaften werden die Norm "Frieden zu erhalten", selten verletzen, wenn freilich eine "pathologische Gesellschaft" Bürgergesellschaften angreift, besteht die Gefahr, daß der Angreifer bei einem potentiellen Sieg elementare Menschenrechte in der angegriffenen Gesellschaft unterdrückt; dies führt zu weiteren Normenkonflikten. Bei der Bedeutung der Informatik-Komponente bei fast alle modernen Waffen, kommen Informatiker nicht um die Entscheidung herum, ob sie sich an direkten militärischen Entwicklungen beteiligen sollen oder nicht. Außerdem lassen sich viele Informatik-Systeme, auch wenn bei ihrer Konstruktion nicht an eine militärische Verwendung gedacht wurde, wegen ihrer "Potentialität" für die Entwicklung oder den Einsatz von Waffen einsetzen.
6. Individuelle und gemeinschaftlich getragene Verantwortung in der Informatik
Die typische Verantwortung in der Informatik besteht ausschließlich in dem von ihr bereitgestellten theoretischen und experimentellen Wissen über Ursachen und Zusammenhänge, in der umfassenden Potentialität der meisten Informatik-Systeme und - eher in Ausnahmefällen - in der Entwicklung dedizierter Programme und Systeme für bestimmte Anwendungen. über Entwicklung und praktischen Einsatz von Informatik-Systemen entscheiden meist Nichtinformatiker.
Personen, die selbst einen geringen Entscheidungsspielraum haben, tragen nur begrenzt Verantwortung. Nur Informatik-Fachgesellschaften können warnend und für die jeweilige öffentlichkeit mit dem genügenden Nachdruck ihre Stimme erheben, um auf nicht genutzte entscheidende Chancen oder aber auf Gefährdungspotentiale aufklärend hinzuweisen. Für die erfolgreiche übernahme dieser Rolle ist aber die Erfüllung zweier Randbedingungen notwendig. Erstens: Die "innovative Informatik" muß das Fachgebiet "Informatik und Gesellschaft" genau so erforschen wie rein technische Fachgebiete; ihre Forschungsergebnisse müssen verstärkt in Wirkungs- und Risikoforschung, in Technikbewertung und Technik-Folgen-Abschätzung eingehen, um Kriterien der ökologischen Verträglichkeit, der sozialen und kulturellen Verantwortbarkeit in den potentiellen Entwicklungsprozeß von Informatik-Systemen einzubringen, ohne die heute Informatik-Innovationen nicht mehr verantwortbar sind. Zweitens: Die Gemeinschaft der Informatikfachleute muß sich gesellschaftlich handlungsfähig durch geeignete Fachgesellschaften organisieren; dazu müssen sich Infomatikerinnen und Informatiker in repräsentativen nationalen Fachgesellschaften zusammenschließen, die europäische und internationale Dachgesellschaften bilden. Regelmäßige geheime Wahlen müssen zu Leitungsgremien aus kompetenten Fachleuten aller Gebiete und Bereiche der Informatik führen; diese Gremien übernehmen zusätzlich zu ihrer bisherigen Aufgabe, fachliche Kommunikationsforen bereitzustellen, die Verantwortung für die kompetente Politikberatung, die fachliche Aufklärung der öffentlichkeit und die Aufarbeitung von beruflich bedingten Normenkonflikten, etwa durch Verabschiedung von "Ethischen Leitlinien" und Einsetzung von Ethikkommissionen. Informatikfachleute delegieren den Teil ihrer individuellen Verantwortung, den sie aufgrund ihres gegebenenfalls geringen beruflichen Ermessens nicht selbst wahrnehmen können.
7. Literatur
(1) Francis Bacon, Novum Organum 1,3; London 1620
(2) Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung; Frankfurt 1979
(3) Ralf Dahrendorf, Lebenschancen; Frankfurt 1979
(4) Hans Lenk, über Verantwortungsbegriffe und das Verantwortungsproblem in der Technik, in: Hans Lenk, Günter Ropohl (Hsg.), Technik und Ethik; Stuttgart 1987
(5) John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit; Frankfurt 1979
(6) John Rawls, Die Idee des politischen Liberalismus; Frankfurt 1992
(7) Ralf Dahrendorf, Der moderne soziale Konflikt; Stuttgart 1992
(8) Immanuel Kant, Kritik der Praktischen Vernunft, Analytik, § 7. Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft; Werke; Darmstadt 1983
(9) Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden; Werke; Darmstadt 1983
(10) John L. Mackie, Ethik; Stuttgart 1981
(11) Klaus Michael Meyer-Abich, Wege zum Frieden mit der Natur; München 1984
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