Ethik in der Informatik

Ethisch-Gesellschaftliche Grundlagen einer innovativen Informatik

Vortrag am 9. Oktober 1992, Universität Klagenfurt
Hermann Rampacher, Gesellschaft für Informatik (GI), Bonn


"Vielleicht finden sich die besten Lehrer der Ethik unter den Kriminellen und Dieben, die sich, wie Locke sagt, aufeinander verlassen und untereinander die Regeln der Gerechtigkeit einhalten. Dabei praktizieren sie sie als Regeln der übereinkunft, ohne die ihr Zusammenhalten unmöglich wäre, und geben nicht vor, sie hätten sie als angeborene Naturgesetze empfangen".
John Leslie Mackie, 1977


1. Einführung und Fragestellung
Wer immer sich in Studium oder Beruf mit Informatik befasst, hat genauere Vorstellungen über deren mathematische, physikalische oder elektrotechnische Grundlagen. Bei diesen Grundlagen geht es um die Erklärung von Tatsachen durch empirisch gehaltvolle Sätze. Bei den ethischen und gesellschaftlichen Grundlagen der Informatik geht es um das Verständnis von Handlungsnormen. Grundgedanke dieses Vortrages ist es, Handlungsnormen rational zu begründen und auf die innovative Entwicklung der Informatik anzuwenden, damit diese verantwortet werden kann.

In Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte ist "Innovation" jener Prozess, in dessen Verlauf neues Wissen und neue Wissenschaftsdisziplinen entstehen. Relativitätstheorie oder Quantentheorie beispielsweise sind Theorie-Innovationen in der Physik, die einmal für die Lösung bekannter, aber bisher unlösbarer Probleme einen völlig neuen und erfolgreichen Denkansatz anbieten, in dessen Gefolge dann wieder neue Probleme auftreten, die vor dem durch die neue Theorie verursachten qualitativen Sprung nicht einmal hätten formuliert werden können. Innovationen dieser Art sind mit der Historie jeder Wissenschaft, also auch mit der der Informatik, verbunden.

Sozialwissenschaftlich gesehen sind (technische) Innovationen hingegen Ursache des sozialen und des technischen Wandels. Im Unterschied zur Invention, die den gedanklichen Prozess der Hervorbringung einer (technischen) Neuheit bezeichnet und der Diffusion, die den Prozess der weiteren Verbreitung und übertragung eines neuen (technischen) Impulses oder (technischen) Verfahrens beschreibt, bedeutet Innovation die erfolgreiche praktische Einführung einer (technischen) Neuheit in den Markt: Innovationen schaffen so neue Märkte und erlauben, bereits vorhandene Bedürfnisse besser zu befriedigen. Motor des technischen und sozialen Fortschritts der industriellen Gesellschaft des 19. und der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts sind Innovationen auf der Grundlage von Wissenschaft und Technik der energetischen und der materiellen Umwandlungsprozesse, also auf der Grundlage von Physik, Chemie, Maschinenbau und Elektrotechnik. In der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts wird aus der Industrie-Gesellschaft mehr und mehr eine "Informations- und Wissensgesellschaft" (Daniel Bell, 1973). Konrad Seitz, ehemals Leiter des Planungsstabes des Auswärtigen Amtes in Bonn, stellt 1992 fest: "Im Jahr 2000 wird die informationstechnische Industrie, vor öl- und Autoindustrie, die größte Industrie der Welt sein ... Sie wird zugleich die zentrale Industrie sein ... In-formation wird zum wichtigsten Produktionsfaktor, zum Schlüssel für die Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit einer Volkswirtschaft". In der Tat: Während die überkommene, auf Physik und Chemie beruhende Technik nur die Güterproduktion bestimmt, gestaltet die Informatik zusätzlich und vor allem den stark wachsenden Dienstleistungsbereich, der die nachindustrielle Gesellschaft charakterisiert. Auch der Fortschritt der Wissenschaft selbst ist heute ohne den breiten Einsatz der Informatik-Systeme unmöglich. Da überdies große Teile des kulturellen Bereichs durch informationelle Prozesse, wiedergegeben durch Schrift, Bild und Ton sowie deren Kommunikation, bestimmt werden, greifen Informatik-Systeme auch tief in kulturelle Prozesse ein. Denken wir an die überflutung mit Informationen, an die Macht der bewegten, teilweise vertonten Bilder, die durch Fernsehen, Videotechnik, Computer-Animation und extensive Nutzung von persönlichen Computern die Informationsaufnahme bei der jungen Generation weltweit eindeutig von den Printmedien hin zu den elektronischen Medien verschiebt. Stellen wir uns in einem Gedankenexperiment vor, alle Informatikanwendungen verschwänden augenblicklich aus unserer Gesellschaft, dann würde ebenso augenblicklich der Betrieb in Technik, Wirtschaft und öffentlicher Verwaltung zusammenbrechen, vergleichbar dem Fall des plötzlichen Ausbleibens der elektrischen Energieversorgung.

Wenn ohne Informatik-Systeme "nichts mehr geht", dann verschaffen Informatikerinnen und Informatiker Entscheidungsträgern in Politik, öffentlicher Verwaltung, Industrie, im Bankwesen, oder beim Militär Zugang zu mehr Macht. Wer beruflich dazu beiträgt, anderen Menschen Macht zu verschaffen, nicht nur, wer selbst Macht ausübt, der trägt Verantwortung, der muss sich Gedanken über die absehbaren Folgen seines Handelns machen. Die Größe der Macht und des Einflusses bedingt auch die Größe der Verantwortung (Hans Jonas, 1979).

So riet denn auch Richard von Weizsäcker 1985: "Ich glaube, es liegt wirklich im Interesse der Wissenschaftler, diese Frage nach der Verantwortung in ihre eigene wissenschaftliche Forschung einzubeziehen". Obwohl der Deutsche Hochschulverband in seinem "Fächerkatalog" von 1977 bereits neben den Fächern "Theoretische Informatik" oder "Praktische Informatik" das Fach "Gesellschaftliche Bezüge der Informatik" nennt, ist dieses Gebiet in Forschung und Lehre erst in sehr wenigen ausgebauten Informatik-Fakultäten vertreten.

Unsere Fragen: Weshalb bestimmen gerade Informatik-Systeme wesentlich den technischen und gesellschaftlichen Wandel? Gibt es Handlungsnormen, an denen sich verantwortbare Entscheidungen des einzelnen Informatikers wie der Gemeinschaft der Informatikerinnen und Informatiker orientieren können? Kann man aus eventuellen solchen Normen ethisch-gesellschaftliche Grundlagen einer jeden "innovativen Informatik" ableiten? Welche persönliche Verantwortung tragen Fachleute der Informatik, welche kollektive Verantwortung die Informatik-Fachgesellschaften? Konkrete Beispiele sollen helfen, die abstrakten überlegungen zu veranschaulichen.

2. Informatik-Systeme: Werkzeuge zur maschinellen Reduktion digital beschriebener informationeller Komplexität
Eine präzise Antwort auf die Frage nach Aufgaben, Gegenständen und Methoden der Informatik lässt sich bei dieser jungen und in rascher Entwicklung befindlichen Wissenschaft noch weniger geben als etwa für die Physik.

Die Gesellschaft für Informatik hat sich in einem Faltblatt Ende der achtziger Jahre für die folgende Erklärung ausgesprochen:

"Informatik ist die Wissenschaft, Technik und Anwendung der maschinellen Verarbeitung und übermittlung von Informationen.
Informatik umfasst

  • Theorie
  • Methodik
  • Analyse und Konstruktion
  • Anwendung
  • Auswirkung des Einsatzes


Die Informatik ist ähnlich gegliedert wie andere Wissenschaften (z.B. die organische Chemie mit ihren modernen Syntheseverfahren und Anwendungen), die sich mit komplexen künstlichen, das heißt von Menschen entwickelten, Systemen befassen. Die Systeme der Informatik dienen gleichrangig von Menschen gesetzten technischen und nichttechnischen Zwecken. Aufgrund ihrer Zielsetzung und Arbeitsweise ist die Informatik auch eine Ingenieurdisziplin. Die Informatik umfasst unter anderem diejenigen Bereiche der Informationstechnik, die auf die Gestaltung von Systemen zur Erfassung, Verarbeitung, übertragung, Verteilung und Darstellung von digitalen Informationen ausgerichtet sind.

Der Gegenstand der Informatik ist vielschichtig. Mindestens vier miteinander eng verzahnte Schichten sind einbezogen:

  • Hardware
  • Software
  • Organisationsstrukturen
  • Nutzer und Betroffene


Entsprechend weit gefächert sind die Teildisziplinen der Informatik. Informatik konzentriert sich einerseits auf die Entwicklung von Anwendungsbereichs-übergreifenden Hardware- und Softwaresystemen und umfasst andererseits anwendungsspezifische Teildisziplinen, wie beispielsweise Wirtschaftsinformatik, Rechts- und Verwaltungsinformatik, Medizininformatik, in denen informatische Prinzipien eine überwiegende Rolle spielen.

Mensch-Maschine-Systeme für menschliche Organisationen reichen über alle vier Schichten hinweg. Wenn solche Systeme wirksam werden und nützlich sein sollen, muss ein Gestaltungsprozess stattfinden, der aufeinander abgestimmte Aktivitäten und Ergebnisse aus allen vier Schichten umfasst."

Die Informatik baut methodisch auf Mathematik und Physik sowie auf der Elektrotechnik auf. Die Informatik als eine eigenständige neue Wissenschaft konstituiert sich (W. Brauer, 1990) aus dem Zusammenwirken folgender Grundelemente:

  • der formalen Spezifikation von Systemen
  • ihrer Darstellung durch Datenstrukturen und Algorithmen und
  • ihrer Zusammensetzung und Untersuchung als dynamische Strukturen sowie
  • der Synthese und Analyse von Hardware- und Softwareinstrumenten, die als Basis zur Implementierung von Algorithmen dienen.


Zu den Grundlagen der Informatik gehört, sehr komplexe Systeme zur Informationsverarbeitung zu konstruieren und ihre praktische Beherrschung zu sichern. Komplexe informationelle Systeme entstehen durch das Zusammenwirken vieler, wohlstrukturierter und präzise spezifizierter Hard- und Softwaremodule. Die theoretische und experimentelle Untersuchung geeigneter Konstruktionselemente und -methoden ist deshalb eine Grundaufgabe der Informatik. Dabei ist noch nicht abzuschätzen, ob und wie weit neuartige Module, etwa biophysikalischer Natur, und mit ihnen eine Erweiterung des Algorithmenbegriffs durch Nichtdeterminismus und Wahrscheinlichkeitstheorie die Informatikmethoden verändern.

Informatik ist eine experimentelle Wissenschaft. Während aber die Physik, eine der Grundlagenwissenschaften der Informatik, versucht, weite Bereiche der Natur durch eine Folge von abgeschlossenen Theorien (W. Heisenberg) bzw. Forschungsprogrammen (I.Lakatos) mit wachsenden Geltungsbereichen so zu beschreiben, dass der Ausgang von Experimenten und Beobachtungen zutreffend vorausgesagt werden kann, konstruiert sich die Informatik, auch unter Einsatz experimenteller Methoden, ihre Gegenstände selbst. ähnlich wie in dem bereits erwähnten Beispiel der synthetischen organischen Chemie dienen diese Konstrukte überwiegend dazu, um von Außen an die Informatik herangetragene Fragestellungen zu lösen. Die Informatik ist deshalb keine empirisch gehaltvolle Grundlagenwissenschaft im Sinne der Erkenntnisgewinnung ("...und wissen möcht' ich, was die Welt im Innersten zusammenhält"), sondern eine "innovative Wissenschaft", eine Wissenschaft, die von ihrer Zielsetzung her Technik, Wirtschaft und Gesellschaft zu verändern bereit ist, vergleichbar in dieser Hinsicht mit den klassischen Ingenieurwissenschaften.

Erstmals in der Geistesgeschichte hat die philosophische Schule, die sich auf Pythagoras, geboren in Samos vor 500 v.C., bezieht, versucht, die Welt durch Ziffern ("digits") abzubilden und dadurch möglichst exakt zu beschreiben. Die Informatiker sind die modernen Pythagoräer! Sie wollen freilich primär die Welt nicht möglichst exakt beschreiben, sondern sie wollen sie nur deshalb exakt beschreiben, um sie zu gestalten: Informatik ist das Werkzeug zur maschinellen und zweckbezogenen Reduktion digital dargestellter informationelle Komplexität. Die zweckbezogene maschinelle Reduzierung digitaler informationeller Komplexität führt entweder direkt zu einer vollständigen Lösung des intendierten Anwendungsproblems, oder macht dieses einer weiteren menschlichen Bearbeitung zugänglicher. So wie bisher mathematische Verfahren erst den Fortschritt der exakten Natur- und Ingenieurwissenschaften ermöglichten, ermöglichen Informatik-Systeme grundlegende Innovationen, die ohne Informatik-Methoden unrealistisch wären.

Die Innovationsstrategien der Informatik müssen, wie übrigens auch diejenigen der "klassischen" Ingenieurwissenschaften, auf die zu erwartenden technischen und gesellschaftlichen Folgen hinterfragt werden; für gut geführte Unternehmen bedeutet dies nichts neues. Die spezifische Schwierigkeit der Informatik im Unterschied zu den Ingenieurwissenschaften liegt darin begründet, dass sie als fast universelle Befähigungstechnologie für die Erreichung von technischen und nichttechnischen Zielen der verschiedensten Art ent-scheidende Beiträge liefert: in die Konstruktion der Informatik-Systeme geht das Systemwissen der Anwender wie das Methodenwissen der Informatiker gleichermaßen und untrennbar ein. Informatikerinnen und Informatiker tragen somit allein durch die Struktur ihrer Wissenschaft Mitverantwortung für die absehbaren Folgen ihrer Entwicklungsprojekte, aber auch für die abschätzbaren Folgen unterlassener Forschungen und Entwicklungen in einer Welt, in der Richtung und Qualität des gesellschaftlichen Fortschritts wesentlich vom rechtzeitigen und angemessenen praktischen Einsatz der Informatik-Systeme abhängen.

Einen überaus interessanten zusätzlichen gesellschaftlichen Aspekt der Informatik hat F. L. Bauer thematisiert: Informatik-Systeme befreien den Menschen von der Mühsal geistiger Arbeit so wie die Arbeitsmaschinen die Menschen von der Mühsal körperlicher Arbeit entlastet haben. Ist also die Informatik eine emanzipatorische Wissenschaft, eine Wissenschaft, die den Menschen aus seiner nicht selbst verschuldeten Unmündigkeit beim Umgang mit der informationellen Komplexität befreit? Erzeugt die Informatik als methodische, nicht als erkenntnisorientierte Grundlagenwissenschaft der nachindustriellen Informations- und Wissensgesellschaft eine neue maschinelle Kulturtechnik, die uns frei macht zu wirklich schöpferischer geistiger Arbeit? Oder gefährdet sie andererseits unser eigenständiges Denken, indem wir auch solche geistige Arbeit an Maschinen delegieren, die unsere Existenz bereichern, ihr erst "Sinn" verleihen? Führen Informatik-Innovationen am Ende bei vielen Menschen zu einem "Verlust des Denkens"?

3. Handlungsnormen optimieren die Funktionsfähigkeit, den Zusammenhalt und die Stabilität einer Gesellschaft
Geschichtsschreibung und Sozialwissenschaften stellen empirisch fest, daß Gruppen, insbesondere auch Großgruppen wie Staaten, ohne Handlungsnormen kulturell, wirtschaftlich oder politisch nicht stabil existieren können. Normen sind Soll-Vorschriften. Im Bereich der Technik ist dies bekannt. Soziale Normen oder Handlungsnormen regeln das menschliche Zusammenleben. Grundlegende soziale Normen legt der Staat durch Grundrechte und durch Gesetze verbindlich fest. Soziale Normen, über deren Einhaltung nicht der Staat wacht, sind die moralischen Normen. Die philosophische Ethik sucht rational zu verstehen, ob und warum verbindliche Handlungsnormen existieren, welche Gestalt sie haben könnten und wie eventuelle Normenkonflikte zu lösen sind.

In unserer Erfahrung ist mit dem Begriff der moralischen Norm zu-gleich auch ihre Verbindlichkeit verbunden. So etwa, wenn Eltern ihre Kinder auffordern, stets die Wahrheit zu sagen. Auf der anderen Seite wissen wir, dass sich Normen geschichtlich entwickeln, wir sprechen vom Normenwandel und drücken damit aus, dass zumindest nicht alle moralischen Normen für alle Zeiten gelten.

Eine positive Begründung ganz bestimmter moralischer Normen erscheint außerordentlich schwierig: Die Geschichte der Ethik bietet eine verwirrende Vielfalt von Lösungen an, von denen keine wirklich befriedigt. Gerade wenn es schwierig oder gar unmöglich sein sollte, verbindliche Handlungsnormen positiv und direkt zu begründen, muss zunächst jedem Menschen zugebilligt werden, so lange autonom über sein eigenes Verhalten entscheiden zu können, so lange er durch dieses sein Verhalten nicht die Autonomie seiner Mitmenschen einschränkt oder gefährdet. Dies ist der Grundgedanke der Toleranz oder der Duldung. Somit gibt es genau dann einen einsehbaren Grund, die individuelle Autonomie durch verbindliche Handlungsnormen einzuschränken, somit vom toleranten Verhalten abzurücken, wenn ohne solche verbindlichen Handlungsnormen die Autonomiebereiche der Individuen miteinander in Konflikt gerieten. Da die individuellen Interessen verschiedener Personen aber nicht immer ohne Konflikte in Einklang gebracht werden können, gilt es Regeln des Zusammenlebens zu finden, deren Einhaltung die individuelle Autonomie optimieren unter den Randbedingungen einer stabilen Gesellschaft, denn diese wiederum ist Voraussetzung für die physische und soziale Existenz des Individuums selbst, die Gewährung in Umfang und Qualität zureichender "Lebenschancen", ohne die es keine individuelle Autonomie gibt. Durch die gültigen sozialen Normen ist also jedem Individuum in einer Gruppe oder jeder aus weitgehend autonomen Menschen bestehenden Gruppe im Verhältnis zu anderen vergleichbaren Gruppen der Gesellschaft die größtmögliche Selbstbestimmung zu gewähren, die in der jeweiligen Gesellschaft unter den kulturellen, technischen, wirtschaftlichen, öko-logischen oder politischen Bedingungen der jeweiligen Zeit stabil möglich sind. Autonomie bedeutet realistisch: jeder Mensch, jede Gruppe in der fraglichen Gesellschaft muss so viele Optionen im Sinne von Lebenschancen haben, dass eine wirkliche Wahl aus einer Reihe von Handlungs- oder Verhaltensalternativen überhaupt möglich ist. Optimierung heißt nicht notwendig, dass jedes Individuum oder jede Gruppe in einer Gesellschaft qualitativ oder quantitativ die gleichen Lebenschancen hat. Vergleicht man hypothetisch zwei verschiedene stabile Gesellschaften, dann ist die erste Gesellschaft normativ dann die "bessere", wenn bei ihr selbst die jeweils am meisten benachteiligten Individuen oder die am meisten benachteiligten Gruppen mehr Lebenschancen als für sie realisierbare Optionen besitzen als die der zweiten Gesellschaft und die übrigen Individuen oder Gruppen der ersten Gesellschaft im Mittel über größere Lebenschancen mit mehr realisierbaren Optionen verfügen als die vergleichbaren Individuen oder Gruppen in der schlechteren.

Wir wissen, dass es Situationen gibt, in denen unterschiedliche moralische Normen miteinander in Konflikt stehen; ein solcher Normenkonflikt ist nur lösbar, wenn es höhere und niedrigere Normen gibt. Die moralische Norm, menschliches Leben zu erhalten ("Du sollst nicht töten!") ist eine der höchsten, da der Tod jede individuelle Autonomie verhindert. Wer durch sein Handeln die Gesundheit anderer gefährdet, schränkt deren Autonomie ebenfalls empfindlich ein. Es ist also prinzipiell möglich, eine Hierarchie von moralischen Normen aufzustellen. Normenkonflikte sind dann so zu lösen, dass zur Einhaltung höherer Normen niedrigere verletzt werden können. Eine einzige Handlungsnorm ist also im strengen Sinne nur verbindlich, so lange keine Konfliktsituation besteht.

Es gibt aber auch gesellschaftliche Randbedingungen für die individuelle Autonomie und die Autonomie von Gruppen aus autonomen Individuen. Ohne die Stabilität der Gesellschaft ist Autonomie jeder Art unmöglich: die wichtigste Randbedingung für den Prozess der Optimierung der individuellen Lebenschancen ist die gesamtgesellschaftliche Stabilität, weil nur diese Grundfunktionen wie z.B. die persönliche Sicherheit gewährleisten kann. Eine weitere Randbedingung zur Normbegründung im Blick auf die Gewährung einer optimalen individuelle Autonomie ist die der Subsidiarität: alles was das Individuum selbst normativ entscheiden kann, entscheidet auch das Individuum, was sich funktional erst in einer Gruppe, z.B. der Familie, normativ autonom entscheiden lässt, entscheidet diese Gruppe; die konkrete Ausgestaltung von Stabilität und Subsidiarität ist im Rahmen des Optimierungsprozesses und den technischen, wirtschaftlichen, ökologischen, sozialen und kulturellen Bedingungen der jeweiligen Gesellschaft zu realisieren.

4. Das komplementäre Prinzip "Duldung und Einmischung"
Jonas spricht in seinem berühmten Buch vom "Prinzip Verantwortung". Mir scheint als rationales Moralprinzip für das stabile menschliche Zusammenleben in größtmöglicher Autonomie, also in größtmöglicher individueller Freiheit, das Handlungsprinzip: "Duldung und Einmischung" tragfähiger und präziser. Dabei sind "Duldung" und "Einmischung" komplementäre Begriffe wie Welle und Teilchen in der Quantenphysik: Duldung, absolut gedacht, leidet keine Einmischung von außen, dauernde Einmischung führt zur Fremdbestimmung und widerspricht so dem Gedanken der Duldung, die erst normative Autonomie möglicht macht. Eine freie "Bürgergesellschaft" kann national oder weltweit stabil nur existieren auf der Basis dieses moralischen Komplementaritätsprinzips! Wenn ein Einzelner in einer Gruppe, oder wenn eine Gruppe kollektiv frei sein will, muss der Einzelne, argumentiert er vernünftig, in der Gruppe die Freiheit des anderen achten, muss die eine Gruppe, argumentiert sie als "vernünftiges Kollektiv" schlüssig und durchaus auch eigennützig, die Freiheit der anderen Gruppen (Verbände, Klassen, Schichten, Völker, Staaten, u.a.) achten, sonst könnte ein Mächtigerer oder eine mächtigere Gruppe die jeweils eigene Freiheit über Gebühr bis zum Grenzfall des individuellen Todes oder des politischen und physischen Untergangs der schwächeren Gruppe beschneiden. Das eine Bürgergesellschaft mit optimierten individuellen Autonomiebereichen konstituierende Handlungsprinzip lautet also: Ein stabiles Gleichgewicht zwischen Duldung, die erst die individuelle normative Autonomie, damit die Selbstbestimmung, ermöglicht, und individueller sowie kollektiver Einmischung mit dem Ziel optimaler, nicht notwendig gleicher, individueller Freiheitsräume im Sinne von realisierbaren individuellen Lebenschancen. Stabile Existenz in Freiheit heißt in einer Welt, in der Krankheiten auftreten, in denen materielle Ressourcen knapp sind, in der die Technik von heute die Welt von morgen mit beabsichtigten und - leider - immer öfters unbeabsichtigten Folgen teilweise unumkehrbar bestimmt, in der Individuen im Rahmen ihrer Natur oder der Bedingungen ihres Aufwachsens benachteiligt sind: ein Leben unter relativ optimalen gesundheitlichen, wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Bedingungen. Einmischung innerhalb der Gruppe wie zwischen den Gruppen ist moralisch genau dann geboten, um damit individuelle Lebenschancen zu optimieren. Die notwendige kollektive Einmischung geschieht in jeder Hochgesellschaft durch das staatlich oder zwischenstaatlich gestützte Rechtssystem, das systematisch den Spielraum ausfüllt, der durch das die Gesellschaft stabil erhaltende Handlungsprinzip gewährt wird, sowie im moralischen Bereich durch die maßgebenden gesellschaftlichen Gruppen wie Kirchen, Gewerkschaften, Parteien oder Verbände. Die individuelle Einmischung oder die durch freiheitlich orientierte gesellschaftliche Gruppen geschieht auf der Basis nicht staatlich gewährleisteter, teilweise tradierter, aber jedenfalls aus dem Handlungsprinzip rational herzuleitender moralischer Normen, deren Einhaltung Stabilität und Funktionsfähigkeit der Bürgergesellschaft optimiert.

Entsprechend der philosophischen Tradition beschreibt das postulierte Handlungsprinzip eine "Teleologische Ethik", deren Handlungen ausschließlich danach beurteilt werden, ob sie die relative Autonomie der betroffenen Individuen oder Gruppen stärken oder schwächen. Die vorgeschlagene Ethik ist eine "Verantwortungsethik", keine "Gesinnungsethik" (Max Weber).

In einer gewissen Analogie zur Kantschen Frage nach der bloßen Möglichkeit von exakter Naturwissenschaft, kann man sagen, dass erst eine Menge von verbindlichen hierarchischen Handlungsnormen die Funktionalität und Stabilität einer Bürgergesellschaft möglich macht: Handlungsnormen sind die Existenzbedingungen einer funktionierenden und stabilen Bürgergesellschaft. Die Forderung nach Duldung, also weitest gehender individueller Selbstbestimmung ihrerseits ist Konsequenz aus der philosophischen Einsicht, dass kein vernünftiger Nachweis für die Objektivität einzelner verbindlicher, vom konkreten Zusammenleben der Menschen unabhängiger Handlungsnormen existiert. Kants kategorischer Imperativ "Handle stets so, dass die Maxime deines Willens zum Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung erhoben werden könnte", würde in moderner Sprache etwa lauten: "Handle gemäß einer Norm, die Funktionsprinzip einer Bürgergesellschaft sein könnte!" Kants eigene Formulierung des Imperativs, Ausfluss einer "deontologischen Ethik", definiert zwar moralische Normen verträglich mit den hier vorgeschlagenen Verständnis, aber sie erlaubt keine Antwort auf die Frage nach der systematischen Lösung von Normkonflikten, da die Unbedingtheit des kategorischen Imperativs dies erschwert.

Ralf Dahrendorf hat 1979 in seinem Buch "Lebenschancen - Anläufe zu einer sozialen und politischen Theorie" Gedanken entwickelt, die in ihren Konsequenzen zu analogen Handlungsnormen führen wie in diesem Vortrag, ohne daß er freilich das vorgeschlagene Handlungsprinzip sowie die Einführung von moralischen Normen als Bedingungen der Möglichkeit einer stabilen Gesellschaft mit optimalen individuellen Lebenschancen explizit genannt hat.

Das Handlungsprinzip zusammen mit der gegebenen Begründung moralischer Normen reproduziert auch eine Reihe von Implikationen des, leicht modifizierten, traditionellen philosophischen Utilitarismus, der (ohne weitere Begründung!) vom Individuum oder vom Staat fordert, so zu handeln, dass optimal viele Menschen von diesem Handeln einen möglichst großen Nutzen haben, oder noch trivialer "das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl". Das hier postulierte Handlungsprinzip muss im Gegensatz zum Utilitarismus nicht erklären, wie der individuelle Nutzen oder gar das "Glück" bei der verschiedenartigen Präferenzstruktur der Menschen zu messen ist.

Die von John Rawls 1971 formulierte "Theorie der Gerechtigkeit", in der Gerechtigkeit im Sinne eines allgemeinen Moralprinzips als "Fairness" interpretiert wird, ergibt teilweise abweichende Ergebnisse, weil aus Rawls' Begriff der Fairness eine weitergehende Gleichbehandlung aller Individuen folgt als aus dem Handlungsprinzip auf der Basis von funktionalen Normen, das Lebenschancen in Anrechten und Angeboten (Optionen) nur relativ optimiert. Gerechtigkeit ist aufgrund des postulierten Handlungsprinzips nur eine der die Bürgergesellschaft konstituierenden Handlungsnormen: Im Sinne einer stabilen Gesellschaft mit größter individueller Autonomie wird die Stabilität nur bei einer als gerecht und sozial empfundenen kollektiven Einmischung praktisch erreichbar sein. Mit etwas anderen Akzenten wird die hier vertretene Auffassung vom britischen Philosophen John Leslie Mackie in seinem 1977 erschienenen Buch "Ethik - Auf der Suche nach dem Richtigen und Falschen" vertreten, der allerdings das postulierte Handlungsprinzip nicht explizit nennt. Nach Mackie würden Verbrecher Normen nicht akzeptieren, wenn sie ihnen nicht in ihrem stabilen Zusammenleben funktional nützten.

In der heutigen Welt, die wegen der Machtmittel der modernen Technik auch die Freiheitsrechte, ja die bloßen überlebensmöglichkeiten zukünftiger Generationen in einem früher unvorstellbaren Maße unumkehrbar und global einzuschränken vermag, haben Individuen wie Gruppen im Sinne eines "Generationenvertrags" auch zukünftige Lebenschancen optimal zu schützen. Dies kann natürlich nicht heißen, dass heute die Lebenschancen für alle potentiellen Nachkommen geschützt werden müssen, dass es also ein "Grundrecht auf Geboren werden" gibt! Vielmehr bedeutet der Generationenvertrag eine faire Lastenverteilung in beiden Richtungen, eine humane Geburtenplanung z.B. gehört notwendig dazu. Auch die Lebensmöglichkeiten einer Vielfalt von Pflanzen und Tieren sind im Generationenvertrag ein-geschlossen, da durch eine irreversible Verarmung des zukünftigen biologischen Lebensraums Erde die Lebenschancen zukünftiger Generationen mindestens von der Angebotsseite entscheidend beschnitten würden. Die Notwendigkeit einer Einmischung in die individuelle Autonomie ist in besonders hohem Maße dann gegeben, wenn die kollektiven Stabilitätsvoraussetzungen durch politische Unterlassungen in der Gegenwart zur abschätzbar irreversiblen Verschlechterung des Angebots an Lebenschancen für die nächsten Generationen führen. Alle Langfristmaßnahmen bedürfen deshalb eines besonders gründlichen rationalen gesellschaftlichen Diskurses. Dieser findet bisher selbst in den höchstentwickelten freiheitlichen Gesellschaften der westlichen Welt, insbesondere auch in Deutschland, österreich oder Westeuropa insgesamt kaum statt.

5. Moralische Normen einer innovativen Informatik
Aus der Fülle der Handlungsnormen, die sich aus dem postulierten Handlungsprinzip rational begründen lassen, sollen hier nur einige derjenigen aufgeführt werden, die für Informatikerinnen und Informatiker aus ihrer spezifischen fachlichen Verantwortung heraus relevant erscheinen.

5.1 Wahrhaftigkeit
Das Sozialsystem jeder Wissenschaft, insbesondere der Informatik, kann stabil nur funktionieren und damit seinen Beitrag zur gesamt-gesellschaftlichen Stabilität im Sinne des Handlungsprinzips liefern, wenn jeder Informatiker und jede Informatikerin sich dem Kriterium der wissenschaftlichen Wahrheit unterwirft. Die wissenschaftliche Arbeit muss sich an den fachlich anerkannten theoretischen und experimentellen Methoden der Informatik und der in der Informatik eingesetzten Methoden anderer Wissenschaften ausrichten. Insbesondere muss klar sein, ob eine Behauptung eine Hypothese ist, oder aber relativ zum Stand der Wissenschaft als "wahr", d.h. als wissenschaftlich bestätigt gelten kann. Zur Wahrhaftigkeit gehört auch das Wissen um die Gültigkeitsgrenzen informatischer Methoden, insbesondere um die aus der experimentellen Methode folgende prinzipiell begrenzte Verlässlichkeit aller Informatik-Systeme.

5.2 Freiheit der Kommunikation
Das Sozialsystem Informatik, also die Gemeinschaft aller Informatikerinnen und Informatiker, kann seinen Beitrag zur ständigen Optimierung der Lebenschancen nur dann liefern, wenn es sich ständig um eine innovative Fortentwicklung der Informatik bemüht. Diese Fortentwicklung benötigt neue fachliche Ideen, die nur in der freien wissenschaftlichen Diskussion gewonnen und in ihrer Tragfähigkeit erhärtet werden können. Zur Optimierung dieser freien Fachkommunikation gehört, alle in der Informatik Tätigen, ungeachtet ihres Geschlechts, ihrer Rasse, Nationalität oder Religion zu dieser Diskussion weltweit zuzulassen. Da Impulse zu Fortentwicklung der Informatik auch von Menschen außerhalb des Sozialsystems der Informatik kommen, müssen Informatikerinnen und Informatiker stets dafür eintreten, dass alle Menschen weltweit frei kommunizieren können.

5.3 Solidarität
Informatik-Projekte lassen sich in der Regel nur als Teamwork realisieren: alle an einem Projekt Beteiligten sind für dessen Gelingen gemeinsam verantwortlich. Jeder muss dementsprechend so handeln, als hinge allein von der Güte und Zuverlässigkeit seiner eigenen Arbeit der Erfolg des Gesamtprojekts ab. Andererseits ist jeder gehalten, sich in die Arbeit einer anderen Person einzumischen, wenn begründete Zweifel an deren Richtigkeit oder Zweckmäßigkeit im Sinne einer effektiven und effizienten, sozial verantwortbaren Gesamtlösung bestehen.

Jeder einzelne kann die gemeinsame Verantwortung für das geplante Projekt nur dann übernehmen, wenn auch eine zuverlässige Folgenabschätzung vor dem Beginn des Projekts unternommen und eine dauernde kontrollierende Begleitung des Projekts die faktische Erreichung der intendierten technischen wie nichttechnischen Ziele sichert. Jeder Informatiker ist aufgefordert, die soziale Verträglichkeit bzw. Erwünschtheit seines Projekts im Sinne des Handlungsprinzips genau so zu hinterfragen, wie er üblicherweise die Erreichung der rein technischen Ziele überprüft. Bei Konflikten muss die Projektgruppe versuchen, den Konflikt intern rational zu lösen oder in einen Dialog mit dem Auftraggeber eintreten.

Solidarität kann sich aber nicht nur auf die eigene Projektgruppe beschränken. Solidarität im Sinne von Einmischung bedeutet auch, dass das gesellschaftliche Subsystem der Informatik dann für die Gesamtgesellschaft Verantwortung trägt, wenn es grundlegende Chancen oder abschätzbare schwere Risiken politischer, wirtschaftlicher oder kultureller Entwicklungen erkennt. Insbesondere gilt dies für langfristige Entwicklungstendenzen, die in unserem gegenwärtigen politischen System nur sehr unzureichend erforscht und gesellschaftlich diskutiert werden. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass jede voll ausgebaute Informatik-Fakultät auch ein Institut für "Informatik und Gesellschaft" haben muss, was die politischen und die ethisch-gesellschaftlichen Grundlagen der innovativen Informatik genau so systematisch untersucht wie dies in anderen Grundlagenfächern der Informatik geschieht. Informatikfachleute haben durch ihre Ausbildung wie in ihrer Berufserfahrung gelernt, in Systemen zu denken. Dieses Systemdenken wird bei den immer schwerwiegenderen und tieferen technischen Eingriffen in früher im Gleichgewicht befindliche Systeme und der kontinuierlich wachsenden Vernetzung unserer technischen, sozio-technischen und ökologischen Subsysteme bis hin zur globalen Vernetzung immer wichtiger, um so mehr als die Menge der unbeabsichtigten Folgen stärker zu wachsen scheint als die der beabsichtigten. Andererseits ist auch aus empirischen Untersuchungen bekannt, dass die Fähigkeit, in Systemen zu denken, bei Bürgern wie bei Führungseliten unterrepräsentiert ist. Hier besteht deshalb eine besondere Verantwortung sowohl des einzelnen Informatikers als auch der Gemeinschaft der Informatiker, zur Aufklärung der öffentlichkeit sowie zur Beratung der Entscheidungseliten angemessen beizutragen. Dies gilt für den Informatiker in seinem Beruf wie auch für den Informatiker als Staatsbürger.

6. Praktische Beispiele
Zur Veranschaulichung normativer Konsequenzen aus dem postulierten Moralprinzip seien einige wenige praktische Beispiele genannt. Für ihre Auswahl gelten folgende Kriterien. Besondere Defizite bestehen in unserer Gesellschaft für Langfriststrategien, darauf wurde bereits hingewiesen, und im Blick auf die Gültigkeitsgrenzen der jeweiligen wissenschaftlichen Methodik. Einer der in der Gesellschaft, vor allem bei politischen und gesellschaftlichen Führungseliten, diesbezüglich weitverbreiteten Irrtümer liegt darin, dass insbesondere die innovativen Natur- und Ingenieurwissenschaften faktisch alle drängenden Probleme lösen können, wenn nur genügend Geld investiert wird.

Die Stabilität unserer nationalen oder europäischen Gesellschaft wird in der zukünftigen globalen Informations- und Wissensgesellschaft nur möglich sein, wenn bestimmte Langfriststrategien zur innovativen Fortentwicklung unserer Gesellschaft verwirklicht werden. Schlagwortartig formuliert: Informatik-Anwendungen sichern den Wissenschafts- und Industriestandort Deutschland, österreich oder Europa, fehlende Anwendungen gefährden ihn nachhaltig! Sie beziehen sich auf die Technikfolgen-Abschätzung, auf die Forschungs- und Technologiepolitik in der Informatik, auf die Bildungs- und Kulturpolitik in bezug auf die Informatik sowie auf den Einsatz der Informatik im Gesundheits- bzw. Umweltbereich.

6.1 Technikfolgen-Abschätzungen
Entsprechend dem vorgeschlagenen Handlungsprinzip sind ethisch verantwortbare Entscheidungen nur möglich, wenn sowohl für alle vorgeschlagenen Informatik-Projekte als auch für mögliche wichtige Projekte, die derzeit nicht realisiert werden sollen, Technikfolgen-Abschätzungen vorgenommen werden. Zwar führt jedes gut geführte Unternehmen in der Marktwirtschaft solche Abschätzungen für seine geplanten Produkte selbst durch, die Optimierung erfolgt aber im Blick auf den Markterfolg des Unternehmens, nicht auf erwünschte Optimierungen im Sinne des Handlungsprinzips. Parlamente, Regierungen und die öffentlichkeit sind, sollen kontinuierlich rationale gesellschaftliche Diskurse zur Optimierung der individuellen Lebenschancen durchgeführt werden, auf verlässliche Technikfolgen-Abschätzungen angewiesen, deren Ergebnisse nicht durch intendierte Erwartungen der zahlenden Auftraggeber beeinflusst werden dürfen. Zwei Maßnahmen erscheinen mir hier wichtig. Einmal die Einführung einer dem Parlament verantwortlichen leistungsfähigen Forschungsinstitution zur Technikfolgen-Abschätzung, die ihre Ergebnisse auch frei veröffentlichen muss, zum andern die Integration von Technikfolgen-Abschätzungen in jedes größere Informatik-Projekt. Es ist äußerst bedauerlich, dass eine öffentlich getragene oder als gemeinnützige Stiftung firmierende Institution zur Technikfolgen-Abschätzung nicht bereits seit Jahren arbeitet, obwohl ihre Notwendigkeit in Deutschland schon seit der sozialliberalen Koalition erkannt war. Erst jüngst wurden in Deutschland erste, wie ich finde noch ungenügende, politische Schritte, zu ihrer Realisierung unternommen.

6.2 Forschungs- und Technologiepolitik
Für die langfristige Stabilität einer Gesellschaft, die vom Export lebt, wie der deutschen oder der europäischen insgesamt, ist eine mit langem Atem angelegte Forschungs- und Technologiepolitik lebenswichtig. Leider waren die aufwendigsten Forschungsförderungsprojekte seit Existenz einer öffentlichen Forschungsförderung in der Bundesrepublik, also etwa seit 1960, Folgen einer bloßen Immitationsstrategie. Keiner Bundesregierung ist es bisher gelungen, auf der Grundlage des versammelten Sachverstands der Forschungsgemeinschaft, der Max-Planck-Gesellschaft, der Fraunhofer-Gesell-schaft und der führenden wissenschaftlichen Gesellschaften zusammen mit den Industrieverbänden und den Gewerkschaften den Versuch eines rationalen Diskurses zu unternehmen, etwa nach dem Muster der früheren konzertierten Aktion. Die Bundesregierungen beschränkten sich darauf, mehr oder weniger willkürlich Sachverständigenkreise zu berufen, die meist mehr eine Alibi-Funktion hatten als wirklich erfolgreiche Politikberatung betreiben konnten. Außerdem fehlte eine leistungsfähige, unabhängige Institution zur Technikfolgen-Abschätzung, die erst die notwendigen Grundlagen für eine erfolgreiche Arbeit der Sachverständigenkreise hätte schaffen können. Dieses Versäumnis führte dazu, daß ungeheure Mittel in die Entwicklung einer unreifen Technologie, der Reaktortechnik auf der Grundlage der Kernspaltung, und neuerdings in die recht spezielle Technologie der Weltraumfahrt investiert wurden. Hätte man nur einen Bruchteil dieser vergeudeten Mittel rechzeitig für Entwicklungsprojekte der Informatik und der Mikroelektronik verwendet, wäre die Situation der deutschen und der europäischen Industrie nicht so kritisch wie heute. Folgende Aussagen kompetenter Männer sprechen für sich selbst: "Europa könnte in weniger als 20 Jahren zur technischen Kolonie Japans werden" (Konrad Seitz, Auswärtiges Amt), es besteht die Gefahr, dass "Europa zu einer drittklassigen Industrieregion absinkt" (Hans-Olaf Henkel, IBM), oder "Wenn nichts Entscheidendes passiert, wird Europa am Beginn des nächsten Jahrtausends mit Sicherheit ohne Halbleiterhersteller, ohne Unterhaltungselektronik und ohne Computerindustrie dastehen" (Hans-Georg Junginger, Grundig). Selbst die deutsche Vorzeigebranche, der Maschinenbau, klagt durch ihren Verbandschef, Helmut von Monschaw, "Wenn es die Werkzeugmaschinenindustrie nicht mehr gibt, dann ist es nur eine Zeitfrage, wann die anderen Industrien auch kaputtgehen". Aus eigener Kraft werden die Europäer und insbesondere die Deutschen den Anschluss an die Weltspitze nicht mehr schaffen. Kooperationen mit den Industrien Japans und der USA sind ebenso notwendig wie ein größerer Beitrag des Staates. Nochmals IBM-Chef Henkel:" Die reine Lehre der Marktwirtschaft hilft hier nicht weiter". Notwendig ist eine europäisch abgestimmte Technologiepolitik. SPD-Chef Engholm fordert eine "interdisziplinäre Verantwortungsgemeinschaft, einen runden Tisch, an dem Politik, Wirtschaft, Gewerkschaften, Verbände und Wissenschaft ihren Platz haben": dies deckt sich mit meiner bereits oben erhobenen Forderung nach einem rationalen gesellschaftlichen Diskurs. Auch wenn keine Volkswirtschaft alle Bereiche gleichermaßen mit Spitzentechnologien bedienen kann, darf die Befähigungstechnologie von Informatik und Mikroelektronik in der deutschen und der europäischen Wirtschaft nicht fehlen. Auch eine internationale Kooperation Europas mit Japan oder den USA ist nur realisierbar, wenn beide Partner von einer solchen Kooperation gleichermaßen profitieren. Informatikerinnen und Informatiker dürfen nicht müde werden, auf diese existenzgefährdende Situation der deutschen und europäischen Industrie und damit der deutschen und der europäischen Gesellschaft im Zeitalter der beginnenden Informations- und Wissensgesellschaft hinzuweisen.

6.3 Informatikbildung für alle
Im heutigen allgemeinbildenden Schulwesen bedeutet das Erlernen der Mathematik, beginnend mit den elementaren Rechenfertigkeiten in der Grundschule, den Zugang zu einer der grundlegendsten Kulturtechniken, deren breite Anwendbarkeit im Sinne der systematischen Reduktion von informationeller Komplexität die heutige, naturwissenschaftlich-technische Zivilisation erst möglich machte. Es ist aufgrund des universellen Werkzeugcharakter der Informatik absehbar, dass elementare und weitergehende Fertigkeiten im Umgang mit Informatik-Systemen eine noch viel weiter reichende maschinelle Reduktion von informationeller Komplexität auf fast allen Gebieten des Berufs und der alltäglichen oder durch Liebhabereien bedingten Praxis ermöglichen. Infolge ihrer fachlichen Kompetenz können heute nur Informatikfachleute in Kenntnis der absehbaren Entwicklung ihrer Wissenschaft entscheiden, welche genauen Bildungsinhalte in der allgemeinbildenden Schule vermittelt werden sollen, damit die jungen Leute für ihre Zukunft optimal gerüstet sind. Doch müssen die Informatik-Curricula, je nach Alter, auch Themen beinhalten wie Grenzen der Verlässlichkeit von Informatik-Systemen, absehbaren Chancen und absehbaren Risiken der weiteren Entwicklung von Informatik-Systemen, insbesondere auch solche im kulturellen und im Medienbereich. Heute schon bestehen in der gebildeten öffentlichkeit falsche, in der Regel überzogene, Vorstellungen über die weitere Entwicklung der Grundlagenwissenschaften Physik, Chemie und Biologie und ihren in ihrer experimentellen Methodik liegenden, prinzipiellen Grenzen trotz des jahrzehntelangen Schulunterrichts in diesen Fächern. Wie viel mehr gilt dies für die Chancen und Risiken technischer und insbesondere auf die Informatik bezogener Innovationen! Ein weiteres Risiko liegt in der Gefahr einer zu umfassenden übertragung menschlicher Denk-, nicht nur menschlicher Entscheidungsakte an Informatik-Systeme, insbesondere wissensbasierte Systeme, sobald das Problem des Zugangssystems überzeugend gelöst ist. Sollte es z.B. möglich sein, Informatik-Systeme zu vielfältigen Denkakten über natürlich-sprachliche oder durch einfache handgeschriebene Anweisungen zu bewegen, besteht die Gefahr, dass Menschen das eigenständige Denken verlernen! Auch solche tief in unsere Kultur eingreifenden möglichen Entwicklungen sollten in Kooperation mit Informatikern geisteswissenschaftlich und insbesondere auch pädagogisch aufgearbeitet werden. Es erscheint deshalb dringend erforderlich, daß an allen Informatik-Fakultäten im Lauf der Zeit Institute für "Informatik und Gesellschaft" eingerichtet werden, in denen durch inter-disziplinär ausgerichtete Projekte solche und ähnliche Fragen systematisch bearbeitet werden. Auch die Schaffung von Lehrstühlen für Ethik in der Technik erscheint mir unabweisbar.

6.4 Kulturpolitik
Die Leistungen der Informatik erlauben erstmals eine Individualisierung von Angeboten von Zivilisation und Kultur. Dies beginnt im konsumtiven Bereich, wo es durch den Einsatz von Informatikmethoden heute möglich ist, Produkte, z.B. Maßkonfektion oder Automobile, gemäß den individuellen Wünschen des Käufers zu fertigen. Dies setzt sich fort in den Bereich der Kommunikation, wo durch die Laserdisc Opernaufführungen aus international bekannten Festspielen wie Bayreuth oder Salzburg, wann immer gewünscht, in die Wohnzimmer übertragen werden. Häusliche PCs helfen jetzt schon vielen Menschen, ihre Briefe oder andere Schriftsätze besser und schneller zu schreiben (Fehlerkorrektur, Speicherung, Rechtschreibhilfen, arithmetische Operationen, Tabellenkalkulation u.a.!). Bald wird der individuelle Zugriff zu spezialisierten Datenbanken über den häuslichen PC praktisch jedermann erlauben, individuell Wissen abzurufen für den beruflichen wie für den privaten Bereich, Wissen, das heute noch privilegierten Bildungsschichten vorbehalten ist. Die Nutzung z.B. moderner Universallexika oder spezieller Nachschlagewerke ist von deren Struktur und Sprache her in der Regel nur diesen Schichten möglich, weitergehende individuelle Hilfen bei der Auswertung dieser Nachschlagewerke fehlen: logische Abfragen unter Vorgabe bestimmter Randbedingungen, wie sie heute schon in wissenschaftlichen Datenbanken möglich sind, erlaubt die altertümliche Drucktechnik des Lexikons nicht, dessen Aktualität zudem schon zum Zeitpunkt seines Erscheinens in vielen Fällen nicht mehr gegeben ist. Rechnergestützter Unterricht daheim wird Aus- und Weiterbildung weiter individualisieren, insbesondere den unterschiedlichen Fertigkeiten und der Schnelligkeit der Auffassung der lernenden Menschen anpassen. In Zukunft werden öffentlich vernetzte persönliche Computer mit einem natürlich-sprachlichen Zugangssystem und Zugang zu den bereits genannten Wissensbanken auch dem Informatik-Laien das "Denkzeug" Rechner für seine individuellen Zwecke umfassend nutzbar machen und damit seine persönlichen Freiheitsräume deutlich erweitern. Multimediale Systeme erlauben künstlerische Ausdrucksmöglichkeiten nicht nur für den kleinen Kreis derjenigen, die heute schon Zugang zu Systemen haben, die Formeln, Text, Bild und Ton vielfältig zu kombinieren gestatten. Kurz: Vielfältige kulturelle Möglichkeiten werden durch Innovationen von Informatik und Mikroelektronik "sozialisiert"!

6.5 Umweltinformatik und Informatik für die Dritte Welt
Die nach dem vorläufigen Ende des Ost-West-Konflikts wohl größte globale Bedrohung der Erde als Lebensraum liegt in deren ökologischer überforderung durch die Bevölkerungsexplosion und die damit korrelierte Belastung und Erschöpfung der in Jahrmillionen gewachsenen natürlichen Ressourcen. Würden auch die Entwicklungsländer eine Industriezivilisation wie die unsere aufbauen, wäre eine irreversible Destabilisierung der Erde als Lebensraum nicht mehr auszuschließen. Damit wird aber auch, nicht im Sinne des Altruismus, sondern der eigenen, wohlverstandenen Daseinsvorsorge, die Frage relevant, in welcher Weise und auf welchen Gebieten Informatik-Systeme in der Dritten Welt eingesetzte werden können.

Die Informatik kann, abgesehen von den notwendigen politischen Maßnahmen, welche die Informatiker als Staatsbürger, geschult durch ihr Systemdenken, fordern sollten, durch raschen Ausbau der Umweltinformatik zum schonenden Umgang mit knappen natürlichen Ressourcen und zur Wiederherstellung einer ökologisch stabilen Umwelt wesentlich beitragen. Auf die dringende Notwendigkeit spezifischer Informatik-Anwendungen für die Dritte Welt sei hier nur hingewiesen.

6.6 Rechnergestützte Entscheidungssysteme
In der Medizin, im Flugverkehr und beim Militär z.B. werden Informatik-Systeme angeboten und auch eingesetzt, die dem jeweiligen Fachmann, also dem Arzt, dem Piloten oder dem zuständigen Offizier, seine persönliche Entscheidung faktisch abnehmen können. Eine solche Vorgehensweise ist in der Regel dann vorgesehen, wenn Entscheidungen aufgrund der Lebenserhaltung (rasche Auswertung zahlreicher Einzelmessungen nach einem Unfall zur geeigneten lebenserhaltenden Therapie, Fluginformationen, Angriff eines Flugzeugs auf ein Schiff u.a.) äußerst rasch auf der Basis eines für Menschen in seiner komplexen Vielfalt nicht oder kaum auswertbaren Datenmaterials getroffen werden müssen. Das System muss, wenn es fachlich verantwortbar sein soll, so konstruiert sein, dass das automatische Delegieren der letzten Entscheidung an das System selbst technisch unmöglich ist; außerdem muss dem Bediener im Rahmen seiner natürlichen biologischen Grenzen ausreichend Zeit zu eigener überlegung bleiben. Die Delegierung von Entscheidungsvollmacht ganz oder teilweise an andere Menschen ist moralisch zulässig und üblich, sie geschieht z.B. in freien und geheimen Wahlen in jeder freiheitlichen Demokratie, dagegen ist die Delegierung von Entscheidungsvollmacht an Maschinen unzulässig.

6.7 Der "gläserne Mensch"
Technisch ist es heute schon möglich, alle Informationen über einen Bürger oder eine Bürgerin, die zunächst in getrennten Datenbasen gespeichert sind, logisch zusammenzuführen. Damit kann eine Person, die ganz oder doch zu großen Teilen Zugang zu dieser Synopse hat, die wesentlich die Existenz dieses Menschen bestimmenden Daten wie z.B. seinen Lebenslauf, seine Krankheiten, seine Partnerschaften, seine Vorstrafen, seine Finanzverhältnisse, seine beruflichen Kenntnisse und Beurteilungen, seine Positionen, die Abfolge seiner Wohnsitze, seine Mitgliedschaften bei Gewerkschaften, Parteien oder Kirchen, seine Kommunikationsverbindungen, sogar in gewisser Weise seine privaten Interessen (Datenbankabfragen!) mehr oder weniger vollständig "auswerten". Das Selbstbestimmungsrecht und die Würde des fraglichen Individuums werden dann fundamental angetastet! Gerichte haben bereits auf diese Problematik der Datenzusammenführung über eine einheitliche Bürgerkennziffer oder bei Befragungen hingewiesen. Selbst im Falle der Strafverfolgung ist diese Datenintegration nicht zulässig, weil schon ihre bloße technische Möglichkeit den Missbrauch nicht ausschließen kann. Deshalb ist auch im Falle von Normenkonflikten - Duldung versus Einmischung! - so zu entscheiden, dass die technische Realisierung eines einheitlichen, im behördlichen Zugriff befindlichen "Bürgerinformationssystems" moralisch unzulässig ist.

6.8 Die Verlässlichkeit der Informatik-Systeme
Wie bereits mehrfach betont, ist die Informatik eine experimentelle Wissenschaft. Diese Methodik bedingt, das eine absolute Zuverlässigkeit und Durchschaubarkeit von Informatik-Systemen prinzipiell ausgeschlossen ist. Diese Tatsache bedeutet eine weitere Einschränkung für die Verlässlichkeit solche Systeme, die menschliche Entscheidungen, etwa als Wissensbasierte Systeme, vorbereiten, oder als mehr oder weniger automatische Prozess-, Lenk- oder Regelungssysteme den Menschen faktisch ersetzen könnten. Ein bekanntes Beispiel hierfür wurde im Zusammenhang mit SDI öffentlich breit diskutiert: je komplexer und umfangreicher die Software eines Informatik-Systems ist, desto undurchschaubarer und damit un-zuverlässiger ist das Gesamtsystem. Selbst wenn mehrere Systeme parallel eingesetzt würden, würde sich dieses Dilemma nicht auflösen. Die Möglichkeit einer hohen Zusatzsicherheit, wie z.B. bei der Konstruktion von Brücken oder Aufzügen, entfällt im Bereich der Informatik, da Informatik-Systeme wegen des Fehlens empirisch gut bestätigter Naturgesetze oder ganzer Theorien nur so verlässlich sein können wie die prinzipiell unvollständigen Testprozesse. Es gehört zur fachspezifischen Verantwortung der Informatiker, auf diesen Sachverhalt öffentlichkeit wie Entscheidungsträger immer wieder hinzuweisen.

7. Die Rolle der Informatik-Fachverbände
Oft sind Informatikerinnen oder Informatiker überfordert, im eigenen Projekt und innerhalb ihres Unternehmens oder ihrer Verwaltung moralische oder politische überlegungen ihrer konkreten beruflichen Arbeit zugrunde zulegen. Professoren oder Forscher in entsprechenden Institutionen mit der Muße und der beruflichen Möglichkeit, als Berater oder Forscher systematisch den Komplex "Verantwortung und Ethik in der Informatik" anzugehen, dürften eher die Ausnahme sein. Außerhalb des politisch-administrativen Bereiches in Kommunen, Ländern oder im Bund als Beamter, Angestellter oder Parlamentarier sind die praktischen Mitwirkungsmöglichkeiten an einem wie auch immer gearteten gesellschaftlichen Diskurs über Innovationsstrategien in der Informatik eher gering.

Hier sind die Informatik-Fachverbände gefordert. Dies setzt freilich voraus, dass sich ein hoher Prozentsatz von Informatikerinnen und Informatikern entschließt, etwa in die Gesellschaft für Informatik (GI) in Deutschland oder die öCG in österreich einzutreten, und einen Teil ihrer fachlichen Verantwortung an "ihren" Verband zu delegieren. Ohne große Mitgliederzahlen und ohne herausragende Repräsentanten sind national, europäisch und auch weltweit wissenschaftliche Gesellschaften gesellschaftlich und politisch ohne jeden größeren Einfluss.

Eine größere Zahl von Informatik-Fachleuten als bisher wird sich für einen solchen Beitritt freilich nur bereit finden, wenn einmal überzeugende Mitwirkungsmöglichkeiten in den fachlichen Gremien der Gesellschaften angeboten werden, und zum anderen die Mitglieder durch Wahlen beruflich kompetente Menschen ihres Vertrauens in die Leitungsorgane der Gesellschaften wählen können.

Bisher haben z.B. in der Bundesrepublik Deutschland, vielleicht mit Ausnahme des VDI mit seinen über 100.000 Mitgliedern, die wissenschaftlichen Gesellschaften nur als Foren für die fachliche Kommunikation durch die Veranstaltung von Fachtagungen und die Herausgabe von Fachpublikationen einen gewissen gesellschaftliche Einfluss genommen. Im Bereich der Politikberatung haben sie fast keine praktische Rolle gespielt, mit Ausnahme wahrscheinlich des Bildungs- und Ausbildungsbereichs, wo etwa curriculare Empfehlungen der GI eine gewisse Beachtung bei Landesregierungen oder einzelnen Universitäten und Fachhochschulen gefunden haben. Bei der staatlichen Forschungsförderung oder der Hochschulpolitik, im Bereich von Regierungen oder Parlamenten, haben zwar einzelne prominente Mitglieder der GI als Berater einen gewissen Einfluss aus-geübt, diesen hatten sie aber in der Regel nur als Person, etwa als angesehener Wissenschaftler und Forscher, oder als Vertreter des jeweiligen bedeutenden Unternehmens oder Industrieverbandes, nicht aber als führendes fachliches Mitglied der GI oder gar als Mitglied eines gewählten zentralen Leitungsorgans. Die Möglichkeit, gesellschaftlich relevante Probleme auf den Foren, d.h. den größeren Tagungen der wissenschaftliche Gesellschaften, auch für die Medien, die Parlamente und Regierungen sichtbar, anzusprechen, wurde bisher in Deutschland kaum genutzt. Meist behandelten die Tagungen fachspezifische Themen, die außerhalb der Gruppe der Informatikerinnen und Informatiker keinerlei Aufmerksamkeit der Medien oder der öffentlichkeit erregte. Kontakte mit Regierungen oder Beamten waren bisher eher sporadisch und führten in der Regel zu keinen gesellschaftlich oder politisch beachtenswerten Aktionen. Auch die Regierungen oder Parlamente ihrerseits haben die Möglichkeiten der wissenschaftlichen Gesellschaften, im Vorfeld wichtiger, auch fachlich orientierter Entscheidungen - etwa zu Forschungsprogrammen oder Gesetzesnovellierungen - in ihren Verbandsgremien, die recht häufig aus Vertretern mehrerer fachlich und gesellschaftlich relevanten Gruppen bestehen, kompetent Stellung zu beziehen, nicht systematisch genutzt.

Während in anderen europäischen Ländern oder auch in den USA die "professional societies" Aufgaben der beruflichen Qualifizierung, der Berufsethik und der gesellschaftlichen Verantwortung systematisch behandelt haben, sind in Deutschland, wieder außerhalb des VDI, wenig diesbezügliche Aktivitäten festzustellen.

Die GI bemüht sich z.Zt., u.a. auch angeregt durch ihre seit 1990 offiziell bestehende europäische Dachorganisation CEPIS (Council of European Professional Informatics Societies) eine interne Strategiediskussion in Gang zu bringen, die dazu führen soll, die GI als kompetenten Partner von Staat und Gesellschaft in allen Fragen, die mit der Wissenschaft und den Berufen der Informatik zusammenhängen, zu profilieren. Dabei denke ich etwa an die Bereiche Bildung, Weiterbildung, Forschung und Technologie, Datenschutz und Datensicherheit, Verlässlichkeit von Informationssystemen, Urheberschutz, Auswirkungen der Informatikentwicklung, Aufklärung der öffentlichkeit über alle Fragen der Informatik und der Informatikentwicklung, aber auch an die Beratung und Unterstützung der verschiedenen Berufsgruppen und Fachrichtungen, die sich in der Informatik herausbilden. Die Einbindung der GI in die europäische Dachorganisation macht es mittelfristig auch möglich, deutsche Informatiker bei einem Umzug ins europäische Ausland zu beraten oder umgekehrt andere europäischen Informatikfachleute zu unterstützen, wenn sie z.B. wissen wollen, welche Berufsprofile in der Bundesrepublik existieren.

Insbesondere muss m. E. die GI durch die Verabschiedung von Verhaltenskodices versuchen, das individuelle Nachdenken der Informatikerinnen und Informatiker in ethisch sensiblen Bereichen rechtzeitig anzuregen. Durch Ethik-Kommissionen oder Ehrenräte sollten Fachkollegen, die im beruflichen Bereich in moralische Konflikte geraten, die ihre berufliche, insbesondere ihre wirtschaftliche Existenz zerstören könnten, unterstützt werden. Umgekehrt muss es auch möglich sein, Mitglieder wegen Handlungen auszuschließen, die sich mit der beruflichen Verantwortung des Informatikers nicht vereinbaren lassen. Sollte eine solche Weiterentwicklung der deutschen und der europäischen Fachgesellschaften gelingen, könnten sie, legitimiert durch ihre Mitglieder, für die deutschen oder die europäischen Informatikerinnen und Informatiker sprechen. Dann und nur dann erscheint es auch sinnvoll, wenn Informatiker und Informatikerinnen einen Teil ihrer fachlichen Verantwortung an ihre jeweilige nationale Gesellschaft delegieren, da diese, demokratisch legitimiert, auf ihren wissenschaftlichen Foren einen öffentlichen rationalen Diskurs verantwortbarer Innovationsstrategien anbieten und damit zum Sprecher der "Scientific Community" der Informatik in ihrem Heimatland, in Europa und weltweit in der der IFIP werden könnten.

8. Zusammenfassung und Schluss
Die Informatik als Werkzeug zur maschinellen Reduktion digital erfasster informationeller Komplexität schickt sich an, die charakteristische methodische Grundlagenwissenschaft der sich ent-wickelnden Informations- und Wissensgesellschaft zu werden. Damit tragen die Informatiker zusammen mit dem Systemwissen der jeweiligen Anwender zum Gelingen fast aller Innovationen der nachindustriellen Gesellschaft bei. Aus dem Charakter ihrer Wissenschaft als Urheber einer umfassenden Befähigungstechnologie folgt unmittelbar die Mitverantwortung des einzelnen Informatikers und der Gemeinschaft der Informatikerinnen und Informatiker insgesamt für die weitere gesellschaftliche Entwicklung der Informationsgesellschaft. Die Innovationsstrategien der Informatik müssen sich an einer Gesamtheit verbindlicher, hierarchisch geordneter Handlungsnormen ausrichten, welche die realisierbaren individuellen Lebenschancen heutiger und zukünftiger Generationen mit Hilfe des komplementären Handlungsprinzips "Duldung und Einmischung" in einer stabilen Gesellschaft optimieren. Häufig ist der einzelne Informatiker oder die einzelne Informatikerin überfordert, in der jeweiligen individuellen Lebenssituation die notwendigen Normen- und Folgenabschätzungen vornehmen zu können. Es erscheint sinnvoll, wenn Informatikfachleute, wie in der Bürgergesellschaft auch in anderen Bereichen üblich, einen Teil ihrer berufsspezifischen individuellen Verantwortung an ihre Fachgesellschaften delegieren, sofern diese auf der Grundlage freier und geheimer Wahlen zu fachlich kompetenten Leitungsgremien dafür legitimiert sind. Diese Gesellschaften beraten und unterstützen Informatikerinnen und Informatiker in ihrer beruflichen Arbeit, auch in kritischen Situationen, aufgrund verantwortlicher ethischer Entscheidungen und verabschieden, insbesondere unter Hinzuziehung ausgewiesener Hochschullehrer und unabhängiger Forscherpersönlichkeiten fachlich fundierte Empfehlungen und Stellungnahmen zur Aufklärung der öffentlichkeit und zur Beratung von Regierung, Parlament, Verwaltung, Wirtschaft sowie der gesellschaftlichen Gruppen und Verbände, soweit diese von den Innovationsprozessen der Informatik betroffen sind.