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Normative Soziodynamik
Zum argumentativen Umgang mit normativen Zielkonflikten
Hermann H. Rampacher
9. Wittenberger Konferenz Evangelischer Krankenhäuser Deutschlands vom 18. bis 20. Juni 2015
Zusammenfassung
In Beruf und Alltag stehen wir nach Lage der Dinge oft vor der Wahl des kleinsten Übels. Wer damit konfrontiert wird, befindet
sich in einem Gewissenskonflikt. Wie dieser sich ohne Rückgriff auf Metaphysik auf normative Zielkonflikte zurückführen lässt,
wird hier gezeigt. Durch "selber denken" auf der Grundlage von Vernunft und Erfahrung kann man global anwendbare soziale Normen
konstruieren und diese durch ihren Rang und den Schaden, der bei Übertretung der Norm zu erwarten ist, bewerten. Der Rang
ist desto größer, je stärker ihr Beitrag zum Risiko der globalen Selbstzerstörung ansteigt, wenn die Zahl der Übertretungen
der Norm wächst. Bei normativen Zielkonflikten - in ihnen können nicht mehr alle Normen simultan beachtet werden -, setzen in
die Konflikte eingreifende Verantwortliche die Geltung von Normen höheren zu Lasten der Normen niedrigen Ranges durch.
Ein Patientengespräch
Die Chirurgin eröffnet dem Kettenraucher, dass bei den schweren Durchblutungsstörungen in seinem Bein nur noch die Amputation
des linken Unterschenkels möglich ist, um sein Leben zu retten. Die Ärztin versichert: die Expertise unseres Operationsteams
ist groß genug, um die mit dem lebensrettenden Eingriff verbunden Risiken klein zu halten.
Immer dann, wenn unterschiedliche soziale Normen, im Beispiel zwei rechtliche Normen, zugleich beachtet werden sollen, dies
indes faktisch unmöglich ist, liegt ein normativer Zielkonflikt vor.
Beim geplanten Eingriff geht es hier um zwei Rechtsnormen, die im Grundgesetz in Artikel 2 im zweiten Absatz
aufgeführt sind: Leben und körperliche Unversehrtheit sind beide geschützt. Aufgrund des medizinischen Erfahrungswissens muss
indes die Übertretung der zweiten Norm hingenommen, "geduldet" werden, um das Leben des Patienten zu retten und so der
höherwertigen Norm Geltung zu verschaffen. In normative Zielkonflikte dürfen nur Personen zu ihrer Beilegung eingreifen, die
über Mittel, Kompetenz und Expertise verfügen, die einen erfolgreichen Eingriff mit kleinem Risiko erwarten lassen.
Das Prinzip "Einmischung und Duldung"
Bei einem allgemeinen normativen Zielkonflikt gilt es diesen mit Hilfe des Prinzips "Einmischung und Duldung" (1,2) zu
entschärfen. Wie im skizzierten medizinischen Beispiel müssen vor jeder Intervention Verantwortliche die Ränge der involvierten
Normen abschätzen. Danach haben sie bei ihrem Eingriff die Geltung der Norm größten Ranges durchzusetzen; sie nehmen die
Übertretung weiterer Normen niedrigeren Ranges zwangsweise in Kauf, "dulden" sie.
Ein ganz anderes Beispiel, eines aus der Geschichte. Die belgische Regierung hat im ersten Weltkrieg das Angebot der deutschen
Regierung ausgeschlagen, trotz der Neutralität Belgiens die deutschen Truppen ohne den militärischen Widerstand des Königreiches
durchmarschieren zu lassen. Sie hat es abgelehnt und so in Kauf genommen, dass viele Belgier gefallen oder verwundert worden
sind sowie einmalige Bauten und Kulturgüter bei den Kämpfen vernichtet wurden. Und dies, obwohl abzusehen war, dass Belgien
früher oder später hätte kapitulieren müssen - was dann auch der Fall war. Dieser Widerstand war deshalb nach dem Prinzip
"Einmischung und Duldung" nicht zu rechtfertigen.
Vor der möglichen Beilegung von Zielkonflikten beschäftigen wir uns mit den zu erfüllenden Voraussetzungen ihrer Lösung. Es
müssen die in den Konflikt involvierten sozialen Normen, ihre Ränge und der mit ihrer Übertretung zu erwartenden Schaden
bekannt sein.
Moralische und rechtliche Normen
Jeder sollte rechtliche und moralische Normen kennen. Diese letzten haben uns unsere Eltern beigebracht. Moralische Normen
gehören - in unterschiedlicher sprachlicher Gestalt - seit Jahrtausenden zum ethischen Erbe der Menschheit. Sie bilden bis
heute faktisch eine weltweit anerkannte Menge sozialer Normen.
Strafbewehrte rechtliche Normen unterscheiden sich von Land zu Land. So ist die künstliche Befruchtung in Israel oder England
kaum beschränkt, in Deutschland jedoch mit strengen Auflagen verbunden.
Gewiss sind Übergriffe auf Mitmenschen wie Gewalt, Betrug oder Diebstahl moralisch wie rechtlich überall verboten. Staaten
halten sich indessen nicht immer an ihre eigenen Normen. Sie üben zum Beispiel beim Beilegen normativer Zielkonflikte mehr
Gewalt aus als notwendig. Die moralisch verbotene Tötung von Menschen - außerhalb akuter Zielkonflikte - gilt in vielen Nationen
und in einigen Staaten der USA als legal.
Das massenhafte Töten in Kriegen, Bürgerkriegen oder Revolutionen bedarf einer besonderen Analyse anhand des Prinzips "Einmischung
und Duldung". Wann selbst ein Verteidigungskrieg nicht gerechtfertigt ist, zeigt das oben erwähnte Beispiel aus dem ersten Weltkrieg.
Zur Aufgabe gesellschaftlicher Normen
Der deutsch-französische Philosoph und Enzyklopädist Baron Paul Thiry d'Holbach hat die Aufgabe sozialer Normen so umschrieben:
"Die Gesetze sind aus keiner anderen Absicht gemacht worden, als um die Gesellschaft aufrecht zu erhalten, und die Menschen,
welche zusammen in Verbindung getreten sind, zu verhindern einander zu schaden (3).
D'Holbach schreibt- wie im 18. Jahrhundert üblich - über physische und moralische Gesetze. Heute unterscheiden wir zwischen
kausalen Naturgesetzen und sozialen Normen. Zu diesen gehören die von Staaten gesetzten "rechtlichen Gesetze" und erlassenen
Verordnungen.
Laut d'Holbach liefert jede Norm ihren Beitrag dazu, dass Staat und Gesellschaft nicht in einem von Menschen gemachten Chaos
versinken. Zugleich schützt jede Norm Menschen vor schädlichen individuellen und kollektiven Übergriffen in dem Maße, wie sie
autonom beachtet wird.
D'Holbach setzt voraus, dass Verantwortliche, insbesondere die Recht setzenden Körperschaften, wissen, was im Einzelnen
schadet und was nicht. Wir zeigen, wie man Normen finden und den mit ihrer Übertretung verbundenen Schaden nach Art und Größe
bestimmen kann.
Eine von Menschen geschaffene Grundmenge sozialer Normen ist dann optimal, wenn die Normen, im Idealfall alle autonom beachtet,
mit einem gängigen Begriff der Spieltheorie nachweisbar kollektive und zugleich individuelle "Win-Win-Regeln" sind.
In älteren Arbeiten hat der Autor seine Gedanken auf philosophischen Tagungen vorgetragen. Inzwischen, seit der Jahrtausendwende,
gibt es das neue Forschungsgebiets der Soziophysik. Es erlaubt, auch die gesellschaftliche Rolle von sozialen Normen besser zu
verstehen (4).
Zur Identifizierung elementarer sozialer Normen
Warten wir in einer Schlange an der Kasse eines Supermarkts und jemand drängt sich vor, hören wir oft den Ausruf:"Wenn das alle
machen würden,…."
In der Tat helfen uns die beiden Fragen "wenn das alle machen würden" oder "wenn das alle nicht machen würden" elementare
soziale, insbesondere von uns im Elternhaus erlernte moralische Normen zu identifizieren.
Zunächst zur zweiten Frage. Wenn Hilflosen nicht wie nötig beigestanden würde, wäre langfristig der kollektive Untergang
vorprogrammiert. Folglich ist Hilfe Grundlage jeder Kooperation, und damit jeder Zivilisation. Hilfeleistungen sind klar
normativ geboten.
Wenn dagegen alle Akteure Menschen mit Gewalt begegnen würden, würden sich Staat und Gesellschaft selbst zerstören. Je mehr die
kollektive Selbstzerstörung von einer wachsenden Zahl von Übertretungen einer vorgegebenen Verbotsnorm zu erwarten ist, desto
größer deren Rang Allgemein können Ränge komparativ oder metrisch bewertet werden). Die rascheste Selbstzerstörung ist bei einer
rasch wachsenden Folge von Tötungsdelikten zu erwarten. Daher ist das Töten von Menschen durch Normen höchsten Ranges verboten.
Die größte Anzahl moralischer Verbote, nämlich 42(1), sind im ägyptischen Totenbuch (2), ca. 1500 vor Christus, dokumentiert.
Nicht, wie bei der deutschen Übersetzung der "Zehn Gebote" - die eigentlich Verbote sind! - durch "du sollst nicht ….", sondern
in Gestalt "negativer Bekenntnisse" vor dem Totengericht "im Leben danach". Zum Beispiel Nummer 26:"…nie war ich schuld, dass
meine Mitmenschen Tränen vergossen". Die Bekenntnisse wurden den Toten schriftlich ins Grab gelegt.
Nach dem Glauben der Ägypter gab es im Falle der Lüge kein Weiterleben. Die weltlichen unter diesen Normen lassen sich alle mit
Hilfe der oben eingeführten Methode bestätigen.
Jede Übertretung einer moralischen Norm galt immer schon und gilt auch heute in der Praxis als Tabubruch.
Mitmenschen reagieren daher darauf mit Entrüstung und dem Entzug des bisher gewährten Vertrauensvorschusses.
Auch durch ihr Schadenspotential lassen sich Normen bewerten
Wer zum Beispiel Mitmenschen betrügt oder fremde Sachen wegnimmt - beides ist moralisch wie rechtlich verboten -, schadet Betroffenen.
Die Größe des mit einer Norm verknüpften Schadens lässt sich sogar beziffern: je größer der kollektive Aufwand ausfällt, den
Zustand wieder herzustellen, der vor Übertretung der Verbotsnorm bestanden hat, desto höher ihr Schadenspotential.
Übersteigt die "Reparatur des Schadens" nach Lage der Dinge das Menschenmögliche- wie bei einer Tötung -
sprengt der Aufwand alle Grenzen, der Schaden ist irreversibel, sein Potential unendlich.
Bei "modernen" gesellschaftlichen Normen, so den Verboten von Kern-, Kohle-, Öl- und Gaskraftwerke aufgrund
ihrer riskanten globalen Langfristauswirkungen, müssen Schadenspotentiale durch die zuständigen Erfahrungswissenschaften bestimmt
werden. Hier haben wir zugleich Beispiele normativer Zielkonflikte vor uns, denn für eine Übergangszeit können wir faktisch den
"Energiehunger" der Menschheit nicht ohne den Einsatz solcher Kraftwerke befriedigen.
Wen weitere Einzelheiten zum Thema "globale soziale Normen", ihren Rängen, ihrem Schadenspotential sowie
dem Zusammenhang zwischen Rang und Schadenspotential interessieren, möge sich im beigefügten "Kasten" informieren.
Globale soziale Normen
Zunächst geben wir eine menschenmögliche riskante Einwirkung auf Menschen, die belebte oder unbelebte Natur vor. Wenn die zu
der Einwirkung gehörige Risikofunktion ansteigt, wenn immer mehr Akteure die riskante Ausführung durchführen und damit das
Risiko der kollektiven Selbstzerstörung erhöhen würden, dann ist diese Einwirkung wegen ihrer absehbare Langfristfolgen durch
eine globale soziale Norm verboten Die zu einer Norm gehörende Risikofunktion muss durch eine entsprechende
empirisch-wissenschaftliche Untersuchung bestimmt werden. Je größer der Anstieg der zu einer Norm gehörenden Risikofunktion
bei einer wachsenden Zahl von Übertretungen, desto größer ihr Rang. Aufgrund ihrer Definition bleiben Ränge immer endlich.
Die ermittelten Normen größten Ranges bilden eine Grundmenge normativer Verbote, die für die globale Zivilisation typisch ist.
Je größer die Anzahl von Grundnormen der Menge gewählt wird, desto präziser die normative Darstellung der Zivilisation. Mit
der wissenschaftlich-technischen und wirtschaftlichen Dynamik ändern sich auch die Grundmengen global anwendbarer sozialer
Normen. Indes bilden - wie jeder selbst Denkende überprüfen kann - moralische Normen aus dem ethischen Weltkulturerbe den
zeitlosen Kern aller Grundmengen.
Grundnormen größten Ranges stehen konstruktiv an der Spitze, Norm kleinsten Ranges am Ende der monoton geordneten Grundmenge.
Die Auswahl der durch ihre jeweiligen Ränge bewerteten Normen lässt sich durch rechnergestützte Simulationsprozesse vornehmen.
Bei der Ermittlung des Schadens, der mit einer bereits durch einen Rang bewerteten Verbotsnorm verbunden ist, müssen die
individuelle und die kollektive Ebene unterschieden werden.
Für Angehörige ist der Tod eines Menschen ein irreversibler Schaden. Staat und Gesellschaft können, je nach ihrer
technisch-wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungsstufe, eine für sie charakteristische Menge von Toten und
Behinderten ertragen, ohne zu kollabieren.
Moralische Verbote aus dem gemeinsamen ethischen Erbe der Weltkulturen sind den lediglich national gesetzten rechtlichen Normen
dann überlegen, wenn sie sich durch "selber denken" reproduzieren lassen. Umfassender anwendbar sind Grundmengen globaler
sozialer Normen, die durch erfahrungswissenschaftliche Untersuchungen und Simulationsläufe jeweils aktuell konstruiert worden sind.
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Normative Gebote
Bislang haben wir uns ausführlicher nur mit Verboten beschäftigt. Diese lassen sich - wie wir gesehen haben - präzise bestimmen.
Aus den bereits identifizierten normativen Verboten können "Grundmengen" von global anwendbaren Verbotsnormen konstruiert werden.
Genau dies schien schon den "Alten" klar zu sein. Deshalb umfassen religiös fundierte moralische Normen in den einzelnen
Hochkulturen nur Verbote. Verbote, die - so dürfen wir annehmen - aus praktischen Erfahrungen früherer Generationen in den
betreffenden Kulturen gewonnen worden sind.
Wie schwer Gebote in Worte zu fassen sind, weiß auch unser Strafrecht. Es erklärt ein fundamentales Gebot durch folgende,
scheinbar komplizierte normative Forderung §323 e Unterlassene Hilfeleistung:"Wer bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr
oder Not nicht Hilfe leistet, obwohl dies erforderlich und ihm den Umständen nach zuzumuten, insbesondere ohne erhebliche
eigene Gefahr und ohne Verletzung anderer wichtiger Pflichten möglich ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder
Geldstrafe bestraft."
Ob die Hilfeleistung, etwa eine ärztliche, tatsächlich erbracht worden ist, kann immer erst nachträglich, so in einem
Gerichtsverfahren geklärt werden.
Es nützt folglich wenig, wie bei Verboten festzuschreiben, was genau getan werden soll.
Das christliche Liebesgebot sagt ebenfalls nichts darüber aus, wie das Gebot der Nächstenliebe in die Tat umzusetzen ist. Das
"Gleichnis vom barmherzigen Samariter" zeigt beispielhaft, durch welche einzelnen Taten Nächstenliebe im konkreten Fall erfolgen
kann.
Nachweis guter kollektiver Kooperation
Wir wissen heute aus wissenschaftlicher Erfahrung viel über die individuelle Kooperation (5).
Um Herauszubekommen, in welchem Ausmaß in Staat und Gesellschaft kollektiv kooperiert wird, machen wir uns zunutze, dass Normen
untereinander korreliert sind. Deshalb auch wurde in allen Hochkulturen gefordert, dass moralische Verbote simultan zu beachten sind.
Ein Beispiel: Wenn Menschen in Not, die sich nicht selbst helfen können, nicht wirksam geholfen wird, muss damit gerechnet
werden, dass sich Alleingelassene durch Übertretung von normativen Verboten das beschaffen, was sie zum eigenen Überleben oder
dem ihrer Familie brauchen.
Ein Maß für die Güte der kollektiven Kooperation ist deshalb, wie viele Grundnormen statistisch relevant übertreten werden.
Sind es nur Grundnormen kleineren Ranges, ist die kollektive Kooperation gut. Je relativ häufiger Grundnormen größeren, vor
allem höchsten Ranges übertreten werden, desto schlechter steht es um die kollektive Kooperation.
Der unerreichbare Idealzustand von Staat und Gerechtigkeit wäre der, in dem keine einzige Grundnorm übertreten wird. In der
Realität unterscheiden sich Nationen daher darin, wie nahe sie diesem Idealzustand optimaler Gerechtigkeit und stabilen inneren
und sozialen Friedens kommen.
Praktische Beispiele einfacher Normenkonflikte
Einfache normative Zielkonflikte lassen sich durch selber denken lösen.
Gleichgeschlechtliche Partnerschaft
Aus aktuellem Anlass zuerst der Fall des gleichgeschlechtlichen Zusammenlebens. Jede Zivilisation riskiert ihren Untergang,
wenn es nicht ausreichend viele Partnerschaften mit Kindern gibt; aus diesem Grund sind gleichgeschlechtliche Partnerschaften
normativ verboten.
Ein Normenkonflikt entsteht erst dadurch, dass es Menschen gibt, die ihr Lebensglück nur in einer gleichgeschlechtlichen
Partnerschaft erfahren, vielleicht aus genetischen oder sozialen Gründen sogar nur erfahren können. Die gleichgeschlechtliche
Partnerschaft kann offenkundig auf den Fall von heterosexuellen Ehen ohne Kinder reduziert werden. Beidemal haben beteiligte
Partner zu wählen, wie sie - im Blick auf ihre Kompetenzen und ihre Erfahrung - ihren Solidarbeitrag für die Verbesserung der
kollektiven Kooperation in Staat und Gesellschaft leisten können.
Zum Schutz menschlichen Lebens
Geht es um Tod und Leben, gilt moralisch, rechtlich und um der Erhaltung der Gesellschaft willen menschliches Leben normativ
als unantastbar. Ob menschliches Leben vor oder nach der Geburt zu Schaden kommt, spielt für den Fortbestand einer Zivilisation
keine Rolle. Deshalb sind Selbsttötung und Schwangerschaftsabbruch wie alle anderen Tötungsdelikte normativ verboten. Dies
trifft sachlich ohne jeden Bezug auf Religion, Moral oder Recht zu.
Normative Verbote sind, wie erwähnt, kollektive und individuelle Win-Win-Spielregeln.
Sobald jemand nichts mehr für seine Familie - allgemeiner für Staat und Gesellschaft - tun kann, gehört sein Leben ihm allein.
Staat und Gesellschaft haben in den Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit alles zu, um das Leben eines schwer Kranken oder
unheilbar Behinderten auf dessen Wunsch zu erhalten.
Einem Betroffenen selbst darf dagegen - falls er nicht selbst Hand an sich legen kann - medizinische Hilfe zum Suizid rechtlich
nicht verweigert werden. Legt er als Christ sein Leben in Gottes Hand, ist dies eine individuelle Entscheidung. Genau so
zulässig ist eine individuelle Entscheidung eines gläubigen Arztes, den Wunsch nach aktiver Sterbehilfe abzulehnen und einen
Kollegen um aktive Sterbehilfe für den Kranken oder Behinderten zu bitten.
Bei jeder Schwangerschaft geht es nicht nur um das Austragen und Gebären - beides ist ohne Unterstützung durch Dritte
schwierig genug -, sondern auch um das Leben "danach" für Mutter und Kind; dies unterscheidet den Schwangerschaftsabbruch von
den übrigen Tötungsdelikten Wenn Mutter und Kind nicht die nötige Unterstützung durch die Familie - oder durch Staat und
Gesellschaft erfahren - lässt sich das Wohl der Schwangeren und das ihrer Gesellschaft normativ nicht mehr zur Deckung bringen:
der Zielkonflikt kann nur gelöst werden, wenn das - grundsätzlich normativ geschützte - Leben des Ungeborenen medizinisch
professionell abgebrochen wird. Im Einklang damit hält unser Recht fest, dass ein Abbruch zwar normativ falsch, aber unter
Kautelen straffrei bleibt.
Zur künstlichen Fertilisation
Im Falle einer "in-vitro-Fertilisation" und einer negativen PID wird - aus vergleichbaren Gründen - der künstlich Schwangeren
und ihrer Familie freigestellt, ob die Zygote eingepflanzt werden soll oder nicht. Ähnlich verhält es sich, wenn bei einem
Embryo absehbar schwere Schäden festgestellt würden; auch hier ist als Lösung eines normativen Zielkonfliktes auf Wunsch ein
Abbruch als "kleineres Übel" zulässig. So wenig ein Staat von den Bürgerinnen und Bürgern "Heldentum" verlangen kann, kann er
dies von Familien - Erwachsenen, die gemeinsam für ihre Kinder verantwortlich sind - erwarten.
Nach gleichem Muster sind weitere normative Zielkonflikte zu lösen.
Schlussbemerkung
Wir haben zwar "ethische Probleme" behandelt, aohne auf die praktische Philosophie (philosophischer Ethik) zurückzugreifen.
Wir haben zwar den moralischen Relativismus widerlegt, und zwar ohne Rückgriff auf philosophische oder theologische Wertungen
(6). Soziale Normen aus dem gemeinsamen "ethischen" Erbe der Hochkulturen haben wir methodisch als Vorschriften reproduziert,
die dazu beitragen, Staat und Gesellschaft zu erhalten und zugleich individuelle Lebensrisiken zu minimieren. Je häufiger
soziale Normen aus von uns konstruierten Grundmengen unbeachtet bleiben, desto mehr fallen kollektives und individuelles Wohl
auseinander. Genau dies Auseinanderfallen ist der tiefere Grund für die Entstehung normativer Zielkonflikte.
Bei allen Überlegungen handelt sich um einfache Anwendungen einer normativen Soziodynamik. Diese ist Teilgebiet des nach der
Jahrtausendwende entstandenen Forschungszweigs Soziophysik (7).
Eine der weiterführenden Aussagen. Je besser es Staat und Gesellschaft gelingt, die Entstehung normativer Zielkonflikte zu
verhindern und die dennoch entstandenen möglichst minimal-invasiv beizulegen, desto gerechter und folglich friedlicher ist das
Zusammenleben. Je geringer der messbare kollektive Aufwand zur Beilegung normativer Zielkonflikte ist, desto gerechter sind
Staat und Gesellschaft (8).
Wie gezeigt, lässt sich Gerechtigkeit - neben Frieden, Solidarität und Freiheitlichkeit - als dynamische "Zustandsgröße" sozialer
Systeme für Staaten messen (8). Ob aus der für jeden zu erkennenden technisch-wissenschaftlichen Dynamik - die zum Beispiel auch
zu ABC-Waffen führte - Fortschritt wird, zeigt sich erst dann, wenn die dynamische Entwicklung messbar zu mehr Gerechtigkeit,
stabilerem Frieden und größerer individueller Freiheitlichkeit für alle führt.
8. Literaturhinweise
(1) H. Rampacher, Normen und Normenkonflikte, Spektrum der Ethik, Workshop 27, Cognitio Humana - Dynamik des Wissens und der Werte, XVII. Deutscher Kongress der Philosophie, Leipzig 1996
(2) H. Rampacher, What May We Do?: An Evolutionary Ethical Theory of Social Risks and Opportunities, 20th World Congress of Philosophy, Boston MA, 10 - 16 August 1998
(3) P.T. d'Holbach, System der Natur oder von den Gesetzen der physischen und moralischen Welt, Frankfurt und Leipzig 1791
(4) G. Kolpaktchy, Das Ägyptische Totenbuch, S. 190 ff, Frankfurt 2006
(5) M. Tomasello, Warum wir kooperieren
(6) P. Lapide, C.F. von Weizsäcker, Die Seligpreisungen, Stuttgart 1980
(7) H. Rampacher, A Socio-Physical Ethical Research Program, International Conference on Socio-Physics, Bielefeld, June 6 - 9,2002
(8) Can We Measure Solidarity and Justice, DPG Spring Meeting Berlin 2012, Physics of Socio-Economic Systems Division, Session Social Systems, Opinion and Group Dynamics II, 29 March 2012, Chair Hans. G. Danielmeyer
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